Interview mit Dr. Christian Esch
Herr Dr. Esch, Computerspiele sind „kulturell wertvoll“, „ein Kulturgut“, so der Deutsche Kulturrat. Worin besteht dieser Wert für Sie?
Der Wert kann in der ästhetischen Gestaltung bestehen, er liegt aber auch allgemein in der kommunikativen Praxis der Spiele. Sie scheint sich angesichts ihrer enormen Verbreitung zu einer neuen Kulturtechnik auszuwachsen, worauf auch die Vielzahl von Anwendungen hindeutet – vom puren Spiel bis zur Vermittlung von Lerninhalten und der Erforschung von gesellschaftlichen, ökologischen, ökonomischen, auch militärischen Problemstellungen. Wenn man an den kommerziellen, oft auch gewaltbezogenen Aspekt der Spiele denkt, wird deutlich, dass sie – ähnlich etwa dem Film – den Doppelcharakter von Kultur und Ware haben: Darauf deutet schon ihre historische Entwicklung hin, die einerseits mit künstlerischen Ansätzen wie der Fluxus-Bewegung verbunden ist, andererseits mit dem Kalten Krieg.
Im Feuilleton scheinen sie mir allerdings noch nicht so richtig angekommen zu sein, sieht man einmal von vereinzelten Rezensionen neuer Spieletitel hier und da ab. Können Sie sich das erklären?
Vielleicht würde es ja eher für das Feuilleton sprechen, wenn es sich nicht so sehr an Kassenerfolgen orientieren würde. Im Ernst: Das ändert sich gerade. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zum Beispiel gibt es – wenn auch eher randständig – ein entsprechendes Magazin sowie vereinzelt Kritiken von Spielen. Denken Sie aber auch an ProSieben Games. Ich bin sicher, das wird sich noch verstärken – allerdings natürlich nicht, ohne dass es dabei auch kommerziell zugeht, versteckt oder offen.
Sie veranstalten seit Jahren die „Next Level Conference“ (mittlerweile Next Level – Festival for Games, Anm. d. Red.) zur „Kunst und Kultur digitaler Spiele“. Wollen Sie die „Beweisführung“ unterstützen: Computerspiele sind doch Kultur?
Sie sind Kultur, das ist gar keine Frage, das müssen wir nicht beweisen. Vielleicht war, als wir 2010 mit der „Next Level“ begonnen haben, ein bestimmter Legitimationsdruck darauf, aber davon ist keine Rede mehr. Spiele sind nicht nur selbstverständlich Kultur, sie sind manchmal auch Kunst. Ihre Verfahren halten zunehmend nicht nur in den Film, sondern auch in das Theater Einzug sowie in die Online-Präsenz von Museen wie etwa dem Frankfurter Städel. Das versuchen wir zu zeigen und auch voranzubringen, denn leider ist gerade die „klassische“ Kulturszene für solche digitalen Neuerungen nicht immer so offen, wie sie es sein könnte und müsste.
Die im Grimme Online Award ausgezeichneten Spiele können als „publizistisch wertvoll“ betrachtet werden. Sind sie als publizistisches Medium ernst zu nehmen?
Unbedingt! Dass es bei den Spielen viel, leider noch zu viel, Verzeihung: Mist gibt, heißt doch nicht, dass das Medium per se nicht publizistisch reizvoll und auch wertvoll sein kann. Das lässt sich zeigen und erleben. Auch im Fernsehen gibt es jede Menge Müll. Trotzdem zeichnet das Grimme-Institut seit Jahrzehnten filmische Leistungen im Fernsehen aus, um damit einen Ansporn zu schaffen, Qualität und Massenmedium zusammenzudenken – warum sollte das Gleiche nicht für die Spiele gelten?
Längst gelten Computerspiele ja als Treiber der Hardware-Entwicklung, sind sie auch ästhetisch innovativ? Liefern sie etwa Beiträge zu einer Webästhetik?
Natürlich wirken sie auf die Webästhetik, genauso wie auf die -funktionalität – und darüber hinaus: Denken Sie an die Nachrichtenstudios in ARD und ZDF, wenn sich etwa die Moderatorin zwischen virtuellen Figuren bewegt, um einen Bericht zu Computerspielen anzumoderieren.
Einigen Computerspielen sagt man nach, sie würden Spieler regelrecht eintauchen lassen in die Spielwelt. Kann das Spielerische ein anderes Erleben ermöglichen?
Wenn ich mich als Spieler mit meinem Avatar in eine Situation begebe, teile ich mich gewissermaßen in mindestens zwei Subjekte – das eine diesseits, das andere jenseits der Konsole. Das kann bedeuten, dass ich ein Alter Ego auslebe, das also die Grenzen, die für mich als Person gelten, im Spiel nicht mehr gelten. Solche Entgrenzung hat natürlich unter Umständen auch eine problematische Seite, wenn etwa Gewaltexzesse die Folge sind.
Die andere Seite der gleichen Medaille ist die Empathie: Indem ich mich in die Figur teile, die all das erlebt, was meiner Lebenswelt fern ist, wächst mir Erfahrung zu, kognitiv und emotional. Ich denke, das kann mit solchen Spielen gelingen.
Es gibt aber auch Beispiele, die arg didaktisch daherkommen, statt aufregende spielerische Erlebniswelten vorzuhalten. Kommt noch eine gewisse Vorhersehbarkeit hinzu, bleibt der Effekt aus. Anders gesagt: Mit Speck fängt man Mäuse – auch im Positiven.
Die Computerspielbranche reklamiert für sich gerne den Begriff des „transmedialen Erzählens“ – auch eine Art Entgrenzung. Sehen Sie im Computerspielbereich die Entfaltung eines neuen, medienübergreifenden Erzählens?
Tatsächlich ergeben sich aus den Spielen Narrative, die auf andere, auch auf analoge Medien wirken, wie zum Beispiel auf das Theater. Manches freilich geht auf Gemeinsamkeiten zurück. Interaktivität ist einerseits ein Merkmal der Spiele, gab es aber bereits in Shakespeares Globe-Theatre: Teils veränderten sich die Stücke mit jeder Inszenierung, etwa wenn die Schauspieler auf das Publikum reagierten und die gesprochenen Texte im Spiel weiterentwickelten. Auf diese Weise erhielten die Stücke erst die Form, in der wir sie heute kennen. Die Spielerfahrung und -praxis war also auch im Theater damals schon interaktiv oder, wenn man so will, transmedial: Auch bei der Wechselbeziehung zwischen Bühne, Publikum und Buch haben wir es mit Formen der Inter- und Transmedialität zu tun.
Wenn das Theater Dortmund auf der Next Level Conference 2015 eine installative Spielsituation schafft und die Rezeption für das Publikum wie auch die Aktion medial gesplittet wird, im Raum wie auf Bildschirmen, so entsteht da, auch im Zusammenklang mit der dafür entwickelten Musik, eine multiple, transmediale Erfahrung. Oder denken Sie an Filme: Quentin Tarantino beispielsweise macht immer wieder Anleihen bei Spielen. Umgekehrt war ursprünglich die Ästhetik des Films für die Spiele maßgeblich.
Der Medienbildung kommen zusehends die Medien abhanden, kann doch plötzlich scheinbar alles ein Medium sein. Wie gehen Sie mit diesem Entgrenzungsphänomen um? Wie lange wollen Sie noch von Computerspielen sprechen? Wie sieht der „next level“ aus?
Das muss einen tatsächlich umtreiben, aber keineswegs defensiv, sondern mit offenem Blick nach vorn: Meines Erachtens handelt es sich um eine durchaus neue Qualität der Entgrenzung. Wenn der Kühlschrank, so wie längst das Smartphone, dann die Drohne, bald das Auto zum gesteuerten, erweiterten Handlungsraum werden, verändert das auch den Handelnden. Wie im Game. Da ist diese Wechselbeziehung zwischen Spieler und Spiel lange schon ganz wichtig. Im Fokus stehen also zunächst einmal wir selbst, als handelnde Subjekte. Es geht um etwas wirklich Grundlegendes: Das ist nichts weniger als die Veränderung des Individuums hin zum erweiterten, multiplen, geteilten „Dividuum“, anders gesagt: zum „Quantified Self“. Verschiedene Arten der Perzeption und der Aktion, physisch wie virtuell, simultan wie fragmentiert, reflexiv wie instrumentell, überlagern und verbinden sich. Das hat Folgen und verändert das Verhältnis von Innen und Außen, von Subjekt und Objekt. Das hat natürlich auch gesellschaftliche und politische Auswirkungen. Eine ziemlich aufregende Sache, wenn man daran denkt, dass unser abendländisches Menschenbild vom unteilbaren Wesen ausgeht. Wie unteilbar es bei alldem wesentlich bleibt, das werden wir sehen.
Zuerst veröffentlicht in der Preispublikation des Grimme Online Award 2016.
Dr. Christian Esch ist Direktor des NRW KULTURsekretariats (Wuppertal). Der promovierte Musikwissenschaftler war Musiktheater- und Schauspieldramaturg, arbeitete als Journalist, war Rundfunkproduzent und Musikredakteur. Lehraufträge und Jurytätigkeiten in den Bereichen Musik und Theater kommen hinzu. 2013 war er Preisträger des Grimme Online Award mit der „museumsplattform nrw“.
Titelbild: NRW Kultursekretariat / B. Babic