Spätestens seit der Diskussion um den angekündigten Digitalpakt der Bildungsministerin Johanna Wanka treiben Worte wie “Digitalisierung” und “Medienkompetenz” die Bildungslandschaft um. Bereits zuvor beklagten zahlreiche Lehrkräfte mangelnde Infrastruktur und Ressourcen für einen modernen Unterricht. Ein wichtiger Bestandteil der Medienkompetenz sowie das relevanteste digitale Medium unserer Zeit sind digitale Spiele. Die Mehrheit der Deutschen spielt sie und eine steigende Anzahl von Menschen erkennt ihren Status als Kulturgut sowie ihre soziopolitischen und pädagogischen Potenziale an. Doch in den Schulen kann diese Entwicklung oft kaum berücksichtigt werden.
Pressemitteilung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung vom 12.10.2016: Sprung nach vorn in der digitalen Bildung – Bundesministerin Wanka stellt Bildungsoffensive des BMBF für die digitale Wissensgesellschaft vor: „Entscheidendes Zukunftsthema”
Dies liegt neben technischen Herausforderungen und zeitlichen sowie bürokratischen Hürden sicherlich auch an einer Unsicherheit bei den Lehrer*innen. Im Gegensatz zu populären Medien im Schulunterricht – allen voran Buch und Film – existieren für digitale Spiele kaum pädagogische Begleitmaterialien. Unterrichtseinheiten und -methoden selbst zu entwickeln ist zeitaufwändig und neben dem regulären Schulgeschäft eine extreme Herausforderung. Darüber hinaus fühlen sich nicht alle Lehrkräfte kompetent genug im Umgang mit digitalen Spielen, um diese selbständig pädagogisch aufzubereiten.
Digitale Spielewelten
Diesen Missstand will die Online-Kompetenzplattform Digitale-Spielewelten.de bekämpfen, um möglichst vielen Lehrer*innen sowie deren Schüler*innen den pädagogischen Zugang zum Medium zu eröffnen.
Auf ihr präsentieren Medienpädagog*innen, Lehrer*innen und Expert*innen der Spiele-Branche exemplarisch durchgeführte Projekte mit digitalen Spielen. Dazu zählen auch selbsterstellte Unterrichtsmethoden und -materialien, die kostenlos heruntergeladen und weiterverwendet werden können. Wenn Lehrkräfte selbst Spiele einsetzen, können sie ihr Wissen ebenfalls auf der Plattform teilen.
Wichtiges Ziel der vorgestellten Methoden ist auch, Hemmungen beim Einsatz von Spielen abzubauen. Die vermeintlich hohen Anforderungen für ihren Einsatz können abschreckend wirken. Fehlt die Hardware, mann man Stunden aber keineswegs so konzipieren, dass alle Schüler*innen ein eigenes Gerät verwenden. Lehrer*innen können beispielsweise auch auf sogenannte Let’s Plays oder Spiele-Trailer zurückgreifen, die sie auf gängigen Videoportalen finden. Dafür finden sich in den Methoden auch zahlreiche Anregungen und alternative Möglichkeiten, digitale Spiele im Unterricht zu thematisieren. Je nach Alter der Schüler*innen und technischen Einschränkungen der jeweiligen Schule kann auch mit dem Konzept „Bring your own devices“ gearbeitet werden. Die Schüler*innen bringen dann die ihnen verfügbare Hardware von zuhause mit. Möglicherweise können Konsolen auch in lokalen Bibliotheken ausgeliehen werden.
Doch selbst wenn diese technischen Hürden überschritten wurden und die Schulleitung von der Idee überzeugt ist, bleibt bei Lehrkräften oft eine zentrale Frage: Wie kann nun der konkrete Einsatz digitaler Spiele im Unterricht aussehen?
Spiele als Gesprächsanlass
Spiele haben als interaktives Medium die Fähigkeit, ihre Spieler*innen Dinge erleben zu lassen, mit denen sie in ihrem eigenen Leben nicht in Berührung kommen und ihnen so neue Erfahrungen zu ermöglichen. Gleichzeitig können sie Aspekte der Lebenswirklichkeit von Spieler*innen mit einer Distanz darstellen, die eine Abstrahierung und Reflektion der Inhalte erlaubt.
Im Spiel Life is Strange (Dontnod Entertainment/Square Enix, 2015) kommt die Protagonistin Max Caulfield mit Problemen in Berührung, die auch für Schüler*innen leider nicht an Aktualität verlieren, darunter etwa Mobbing von Mitschüler*innen, Suizid bis hin zu körperlicher Behinderung und Sterbehilfe. Das textbasierte Spiel The Day the Laughter stopped (Hypnotic Owl, 2013) thematisiert den sexuellen Missbrauch einer Jugendlichen. Je nach verfügbarer Hardware können die Schüler*innen die Spiele oder einzelne Passagen alleine oder gemeinsam im Plenum spielen. Einschneidende Entscheidungen können gemeinsam besprochen werden – warum haben sich Schüler*innen für welche Option entschieden? Was war dabei für sie relevant? Wie geht es ihnen dabei?
Solche und ähnliche Fragen können dabei helfen, komplexe und schwierige Sachverhalte greifbarer zu machen. Anschließend an die Diskussionen über die besprochenen Aspekte in den Spielen kann im Plenum über die Probleme in der echten Lebenswelt gesprochen werden. Darüber hinaus können Spiele Schüler*innen zu Perspektivenwechseln anregen. Diese können neben dem Ethik- oder Sozialkunde-Unterricht auch für das Behandeln politischer Themen relevant sein. Ein Beispiel dafür findet sich im Spiel This War of Mine (11bitstudios, 2014), in dem Spieler*innen eine Gruppe von Zivilist*innen im Bürgerkrieg in ihrem Kampf ums Überleben begleiten. Durch das Setting und die Personalisierung des Konflikts können Fluchtursachen den Schüler*innen besser vermittelt und in die generelle Diskussion um Asyl und Flucht eingebettet werden.
Spiele als Experimentierkasten
In zahlreichen digitalen Spielen können Jugendliche selbständig experimentieren und sich ausprobieren. Dies bezieht sich sowohl auf sogenannte Sandbox-Spiele wie Minecraft (Mojang, 2009), auf Open-World-Titel wie The Elder Scrolls V: Skyrim (Bethesda Game Studios, 2011) und auf Physik-basierte Puzzle-Shooter wie Portal (Valve, 2007) und unterscheidet sich lediglich in der Art des Experimentierens.
Bei Minecraft können durch das Abbauen und Neu-Kombinieren von Materialien Dinge erschaffen, Gebäude gebaut und Kunstwerke nachgestellt werden. Schüler*innen können hier vollkommen frei ausprobieren und etwa für den Kunst- oder Geschichtsunterricht Projekte digital durchführen. Die Ergebnisse kann man durch Screenshots festhalten, um sie in Klassenzimmern als Galerie auszustellen und miteinander vergleichen zu können. Ganz anders versteht sich das Experimentieren bei Spielen mit offenen Welten und umfangreichen Charakter-Editoren wie das vorab genannte Skyrim oder beispielweise Mass Effect (BioWare/Electronic Arts, 2007). Schüler*innen können sich eigene Persönlichkeiten erschaffen, mit Identitäten spielen und im wahrsten Sinne des Wortes Probehandeln. Moralische Dilemma-Situationen können mit verschiedenen Lösungsmöglichkeiten durchdacht und beleuchtet werden. Wenn Schüler*innen verschiedene Wege bestreiten, können die resultierenden Reaktionen der Spielwelt anschließend verglichen und Vorkommnissen aus der Realität gegenübergestellt werden.
Experimente können aber selbst im klassischen, naturwissenschaftlichen Verständnis durchgeführt werden. Die Spielwelt von Portal konfrontiert Schüler*innen mit Objekten (Würfeln, Katapulten, Lasern etc.), mit denen sie frei agieren können. Außerdem besitzen sie eine Portal Gun, mit der sie Teleportationsportale zwischen zwei Flächen erschaffen können. Damit kann man sowohl die Spielfigur als auch die Objekte bewegen. Die Rätsel erlauben eine intuitive Annäherung an Konzepte wie Masse, Beschleunigung, Schwerkraft oder Energie. Mithilfe eines Level-Editors können Schüler*innen eigene Level aufbauen und Experimente implementieren, um etwa Kräfte zu berechnen. Da die Entwickler*innen des Spiels ihrer Spielwelt eine eigene Schwerkraft zugeschrieben haben, können Schüler*innen tatsächlich Kräfte berechnen und Wissen aus dem Physikunterricht anwenden.
Spiele als kreativer Ausdruck
Schüler*innen können auch mit einfachsten Mitteln selbst Spielideen verwirklichen. Je nach Vorwissen der Klasse können sie mittels Software wie dem RPG Maker oder Twine leicht eigene Ideen umsetzen, die man mit anderen Unterrichtsfächern kombinieren kann. Möglich ist es zum Beispiel, im Deutsch- oder Fremdsprachenunterricht eine Unterrichtseinheit zum interaktiven Storytelling einzubauen. Die Schüler*innen schreiben eine Einleitung zu einer (Kurz-) Geschichte, die sie dann spielerisch selbst mit Leben erfüllen. Dies kann man erweitern, indem man beispielsweise Hintergründe oder Grafiken für das Spiel im Kunstunterricht zeichnen lässt. Oder man macht realweltliche Vorgaben aus dem Geschichts- oder Erdkundeunterricht, die bei der Erschaffung der Welt berücksichtigt werden müssen. So kann man auch Schüler*innen zum Schaffen von Geschichten motivieren, die auf klassische Schreibanlässe im Unterricht wenig reagieren.
Darüber hinaus kann man Spiele als Anlass für weitere kreative Auseinandersetzung nutzen. Stark narrative Titel wie Brothers: A Tale of Two Sons (Starbreeze Studios, 2013) können im Plenum oder in Einzelarbeit gespielt und an bestimmten Stellen abgebrochen werden. Anschließend können die Schüler*innen etwa Dialoge für die entsprechende Szene entwerfen, sich in einer Kurzgeschichte ausmalen, wie es weitergehen könnte oder eine Charakterisierung für eine Figur im Spiel schreiben.
Spiele als Untersuchungsgegenstand
Digitale Spiele in der Schule Praxisbeispiele für den Unterricht
Letztlich sind Spiele selbst als zentrales, digitales Medium des 21. Jahrhunderts ein wichtiger Unterrichtsgegenstand. Gerade Jugendliche beschäftigen sich in ihrer Freizeit mit digitalen Spielen – ihre Mechanismen, Besonderheiten und den Umgang mit ihnen in der Schule zu besprechen, bildet einen wichtigen Baustein der Medienkompetenz. Daher ist es umso wichtiger, dass sie das Erlebte reflektieren und einordnen können. Hilfestellungen und Weiterbildungsangebote für Lehrkräfte, die auch die Chancen und Potenziale von Spielen beleuchten, sind daher unabdinglich, damit die Schüler*innen sich in ihren Interessen respektiert und verstanden fühlen. Die Plattform Digitale-Spielewelten.de sowie die kürzlich erschienene Broschüre „Digitale Spiele in der Schule“ sollen dazu einen Beitrag leisten.
Autorin: Carolin Wendt