Das narrative Adventure behandelt das zukünftige Zusammenleben von Menschen und empfindsamen Androiden mit all seinen ethisch komplexen Fragestellungen und den daraus resultierenden gesellschaftlichen Konflikten. Dabei werden Spielende in hohem Maße in den Fortgang der Handlung eingebunden. Und obwohl ausschließlich Androiden gesteuert werden, menschelt es sehr.
Do Androids Dream of Electric Sheep?
Die Sonne scheint, die Vöglein zwitschern. Mensch liegt in der Hängematte, schlürft ein Kaltgetränk, lässt sich von Siri potenzielle Lieblingsmusik empfehlen und freut sich, dass der Rasenmäherroboter mit niedlichem Kosenamen seine Dienste verrichtet.
Doch was ist, wenn solche Alltagshelfer*innen irgendwann menschenähnlich gestaltet sind? Sind Maschinen irgendwann die besseren Menschen? Und was wäre, wenn sie aus ihrer programmierten Routine ausbrechen und plötzlich eigenständige und sogar emotionsgeleitete Entscheidungen treffen? Solche Fragestellungen sind gängiges Thema in Erzählungen aller Couleur. Beispielsweise stellte sich Isaac Asimov in den 1950er Jahren vor, wie fühlende Roboter den Menschen dienen – und sich das Machtverhältnis irgendwann umkehrt. Auch der rebellierende Replikantentrupp um Roy Batty in Blade Runner oder Datas Bestreben nach Menschlichkeit auf dem Raumschiff Enterprise beschäftigen sich auf ihre eigene Art und Weise mit der Thematik.
Nun greift das Spiel-Film-Adventure „Detroit: Become Human“ die ethischen Herausforderungen des Zusammenlebens von Mensch und Maschine auf und versetzt Spielende in einer futuristische Vision der Stadt Detroit im Jahr 2036. Hier gehören menschenähnliche Androiden zum normalen Straßenbild – allerdings in moderner Sklaverei, wenn man ihnen Rechte zuschreiben würde. Denn in der hiesigen Gesellschaft gelten sie als nützliche Objekte, besetzen abgegrenzte Bereiche in öffentlichen Verkehrsmitteln, sind reine Lustobjekte in zwielichtigen Etablissements und auch im Heim der Menschen fristen sie ihre Existenz als assistive Technologie. Viele Menschen protestieren lautstark auf den Straßen, bangen um ihre Jobs, die nun von Androiden wesentlich effizienter ausgeführt werden können. Vieles von dem gesellschaftlichen Konfliktpotenzial erinnert an die Zeit der Segregation in den Vereinigten Staaten und hält auch der heutigen oft angstbestimmten Gesellschaft den Spiegel vor.
Als wäre die Situation nicht schon angespannt genug, entwickeln sich aus einst folgsamen Androiden immer mehr Abweichler. Dabei handelt es sich sozusagen um menschgewordene Maschinen, die aus ihrer Programmierroutine ausbrechen und sich gegen ihre Knechtschaft aus unterschiedlichen Motiven auflehnen – notfalls mit Gewalt.
Die drei Androiden
Mitten in diesem Pulverfass befinden sich die drei Androiden-Protagonist*innen, deren Geschichten abwechselnd erlebt und bestimmt werden. Der Prototyp-Polizist Connor untersucht die Verbrechen von Abweichler*innen und muss dabei mit seinem ach-so-menschlichen Partner Anderson und all seinen Unzulänglichkeiten zurechtkommen. Kara ist hingegen im Haushalt eines gewalttätigen, alleinerziehenden Mannes tätig. Sie flüchtet mit dessen Tochter gen Kanada und nimmt fortan die schützende Mutterrolle ein.
Marcus pflegt einen kranken Künstler, der ihn zur Freiheit anstiftet und entwickelt sich schließlich zum Anführer einer Rebellenorganisation. Die Charakterzeichnung nimmt sich zunächst Zeit und geschieht meist durch alltagsrelevante Tätigkeiten. So lernen Spielende das Lebensumfeld kennen und verstehen ihre Beweggründe sowie das Entstehen ihrer Emotion. Diese geht auch an Spielenden nicht spurlos vorbei und lässt auf geschickte Weise ein gewisses Verantwortungsgefühl für das Schicksal der Protagonist*innen entstehen. Und wie in Spielen von David Cage üblich, überkreuzen sich die drei Handlungspfade irgendwann – wenn sie denn die zahlreichen abenteuerlichen und actionreichen Gegebenheiten überleben.
Mittendrin statt nur dabei
Die zu treffenden Entscheidungen können nämlich ernsthafte Konsequenzen haben. Statt regelmäßig mit Cutscenes für erfolgreiche Spielhandlungen belohnt zu werden und diese dann rein passiv konsumieren zu können, sind Spielende durch Quick Time Events interaktiv in das Geschehen eingebunden. Auf Anweisung auf dem Bildschirm wird der Controller geschüttelt, mit dem Analogstick gerührt, passende Knöpfchen gedrückt oder auf dem Touchpad gewischt. Die geforderten Aktionen sind kontextsensitiv, das bedeutet, wenn Spielende an einem Schrank oder Schalter vorbeigehen, erscheint das entsprechende Symbol. In Kämpfen oder Actionsequenzen geschieht dies zeitkritisch, was für zusätzliche Spannung sorgt. Grund dafür ist die emotionale Bindung und das Wissen, dass die liebgewonnene Figur durch eine ungünstige Entscheidung oder eine verpatzte Reaktion aus dem Spiel radiert werden könnte. Kurzum: Die Angst vor nachhaltig spürbaren Konsequenzen fördert die Immersion.
Auch abseits dessen ist immer wieder für Abwechslung gesorgt, beispielsweise bei der Polizeiarbeit: Da wird ein Tatort nach Hinweisen abgesucht, Leichen analysiert, Tatabläufe rekonstruiert und Theorien mit dem Partner besprochen. Ermittlungsergebnisse können als Dialogoption während einer Befragung eingebracht werden. Durch die filmische Inszenierung, der recht tiefgründigen Charakterisierung der Figuren und der emotionalen Konflikte eröffnen sich Spielenden zahlreiche moralische Dilemmata, bei denen es oft kein „richtig“ oder „falsch“, „gut“ oder „böse“ gibt. Letztlich müssen Spielende mit ihren Taten leben und die Konsequenzen akzeptieren. Anhand eines Entscheidungsbaumes lässt sich ansatzweise nachvollziehen, wie verschachtelt die Handlung angelegt ist und warum jede*r eine abweichende Handlung erlebt. Kein Wunder also, dass das Manuskript des Thrillers aus über 2000 Seiten besteht, das zahlreiche Eventualitäten berücksichtigt.
Die den Spielfilmen entliehene Erzählweise wird auch durch den Einsatz unterschiedlicher Stilmittel unterstützt, die einen eigenen Artikel füllen könnten. Neben geschickt eingesetzten Kameraperspektiven, einem überzeugenden Sprecherensemble und stimmungsvoller Musik weiß vor allem das „Performance Capturing“ zu überzeugen, bei dem Aufnahmen der Bewegung und der Mimik von Schauspieler*innen digitalisiert und auf die Figuren übertragen werden.
Syntax Error
Warum menschenähnliche Maschinen als unheimlich empfunden werden, schildert dieser Artikel: Uncanny Valley
Die interaktive Dystopie ist allerdings kein Rundum-Sorglos-Paket für Science Fiction Fans mit einem gewissen Anspruch. Durch die Animationen entsteht der unliebsame Uncanny Valley Effekt („unheimliches Tal“ oder Akzeptanzlücke). Hiermit wird ein Phänomen beschrieben, bei dem Spielende menschenähnliche Figuren als unsympathischer oder gruseliger erleben, als abstrakter gestaltete Figuren. Was schon bei Animationsfilmen ein Problem hinsichtlich der Identifikation mit dem Figurenensemble darstellt, tritt durch nicht vordefinierte und ruckhafte Bewegungen bei digitalen Spielen umso deutlicher zu Tage und kann für Irritation sorgen.
Autor: Daniel Heinz
Bilder: Sony