Der 20. August 2003 ist in der Forschung zur Computerspielmusik, der sogenannten Ludomusicology, ein wichtiges Datum: Genau 26 Jahre nachdem in der Tokioer Suntory Hall das weltweit erste orchestrale Computerspielmusik-Konzert über die Bühne gegangen war, führte nun erstmalig außerhalb Japans ein Orchester Computerspielsoundtracks auf. Initiiert von Produzent Thomas Böcker und unter der Leitung von Dirigent Andy Brick präsentierte das Czech National Symphony Orchestra die Musik aus Computerspielen und Computerspielserien wie Final Fantasy (1987), Shenmue (1999), The Legend of Zelda: The Wind Waker (2002) oder Medal of Honor (1999). Mag man dies noch nicht ungewöhnlich finden, schließlich sind Computerspiele seit Ende der 1970er in der Popkultur der westlichen Hemisphäre ähnlich tief verwurzelt wie in Japan, so ruft der Ort dieser Aufführung doch immer wieder Erstaunen hervor: das Leipziger Gewandhaus.
Dieser Beitrag ist Teil des Dossiers Musik & Sound. Eine Übersicht über alle Beiträge des Dossiers gibt es hier.
Ja, Sie lesen ganz richtig. Die erste (bis dato bekannte) kommerzielle orchestrale Live-Aufführung von Computerspielmusik außerhalb Japans fand in Deutschland statt. Sie bildete zugleich den Auftakt für die Reihe der Symphonischen Spielemusikkonzerte, die bis einschließlich 2007 Teil der offiziellen Eröffnungszeremonie der Leipziger Games Convention waren.
„Aria di Mezzocarattere“ aus Final Fantasy VI, aufgeführt durch das Swedish Radio Symphony Orchestra am 30.01.2016.
Nerviges Gefiepe?
Dieses Erstaunen ist nachvollziehbar: Lange Zeit genossen Computerspiele in Deutschland keinen sehr guten Ruf. Erst allmählich setzt sich auch hierzulande die Erkenntnis durch, dass es sich bei Games nicht nur um einen boomenden Zweig der Kreativwirtschaft und Unterhaltungsindustrie, sondern auch um ein förderungswürdiges Kulturgut handelt. Und ebenso wie die Spiele selbst, wurde und wird auch ihre Musik mit Skepsis betrachtet. Computerspielmusik, das sei doch dieses „nervige Gefiepe“.
Dass es sich bei dem „nervigen Gefiepe“ durchaus um interessante und komplexe Kompositionen handelt, für deren Erschaffung es lange Zeit nicht nur kompositorischer, sondern auch programmiertechnischer Kenntnisse und Fähigkeiten bedurfte, dass Computerspielmusik einen zentralen Beitrag für ein immersives und intensives Spielerlebnis leisten kann oder sie ebenso wie die Spiele selbst seit Ende der 1970er andere musikalische Genres, Medien- und Kunstformen nachhaltig beeinflusst hat und im Rahmen fankultureller Praktiken selbst zum Gegenstand spielerischen Umgangs geworden ist – all dies sind Gegenstände der jungen wissenschaftlichen Teildisziplin, die unter dem Label „Ludomusicology“ firmiert.
Ludology trifft Musicology
Der Neologismus setzt sich aus den Begriffen „Ludology“ und „Musicology“ zusammen und wurde unabhängig von Guillaume Laroche im Jahr 2007 und Roger Moseley (2008) geprägt.[1] [2] Während Laroche mit dem Präfix „Ludo“ vornehmlich kommunizieren wollte, dass er sich mit der Musik aus Computerspielen befasst, verweist Moseley damit bewusst auf die Ludologie, die es sich zum Ziel gesetzt hat, gegenstandsspezifische Ansätze für die Erforschung von Spielen und Computerspielen zu entwickeln. Mit dieser Begriffswahl schlägt er vor, auch über Musik selbst als spielerische Praxis nachzudenken:
„Whereas Laroche’s deployment of the term has reflected a primary interest in music within games, I am more concerned with the extent to which music might be understood as a mode of gameplay. […] Bringing music and play into contact in this way offers access to the undocumented means by which composers, designers, programmers, performers, players, and audiences interact with music, games, and one another.“ (Moseley, 2013, S. 283) [3]
Die ludomusikologische Forschung geht damit noch einen Schritt über die Erforschung von Computerspielmusik, Musikspielen und spielerischen Musikpraktiken der Computerspielkultur hinaus. Wie Isabella van Elferen formuliert:
„[T]he study of game music does not only present us with new research themes, but, moreover, […] it has the potential to inspire a major disciplinary reform. Ludomusicology can lead to a New Drastic Musicology: an intellectual engagement with videogame music that is just as rooted in immediacy, interactivity and playfulness as the object with which it concerns itself. The New Drastic, I shall argue, can engender significant critical, epistemological, thematic, and analytical innovations in the discipline of musicology.“ (van Elferen, 2014, S. 2) [4]
Eine eigenständige Disziplin
Die Erforschung von Musik in Computerspielen hat schon früh vor allem das musikwissenschaftliche Interesse geweckt. Erste Artikel zum Thema finden sich bereits Ende der 1980er und vereinzelt um die Jahrtausendwende. Ein gängiger Ansatz war zunächst der Vergleich zur Filmmusik und das Herausarbeiten der Ähnlichkeiten und Unterschiede.
Tatsächlich hat Computerspielmusik ähnliche Aufgaben wie die Filmmusik, indem sie als zusätzliche Kommunikationsebene dient. Auch einige aus der Filmmusik bekannte Techniken wie etwa das Mickey Mousing, die Leitmotivtechnik oder das Underscoring finden Anwendung. Doch während Filmzuschauer*innen weder auf die Ereignisse im Film noch auf die darin erklingende Musik Einfluss nehmen können, werden Computerspiele von Spieler*innen gespielt bzw. zur Aufführung gebracht.
Ebenso wie die Spielentwickler*innen haben auch Computerspielmusikkomponist*innen nur eingeschränkt Kontrolle darüber, wie sich die jeweilige aktuelle Spiel- und Musikaufführung tatsächlich zusammensetzt, da es auch von den Handlungen der Spieler*innen abhängt, was zu welchem Zeitpunkt geschieht. So können sie das Spiel beispielsweise in verschiedenen Geschwindigkeiten durchlaufen, sich an bestimmten Orten nur sehr kurz oder besonders lang aufhalten, bestimmte Spielabschnitte gar nicht betreten, sie können die Musik ausstellen oder durch eigene ersetzen. Komponist*innen müssen ihre Musik dementsprechend mit Hilfe bestimmter Kompositionstechniken modular komponieren, damit sie sich während des Spielens dank einer entsprechenden technischen Implementierung möglichst flüssig an die Spielereignisse anpassen kann.
Ein anderer Ansatz ist sogenannte prozedurale Musik, die Generierung eines Soundtracks durch den Computer auf Basis bestimmter Parameter in Echtzeit. Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass filmmusikalische Analysemethoden zwar nützlich sind, jedoch in Bezug auf das interaktive Moment, spätestens jedoch bei der spezifischen Form des Musikspiels, an ihre Grenzen stoßen. Ludomusikolog*innen haben sich dementsprechend neben der Erforschung von Geschichte und Praxis der Computerspielmusik die Entwicklung einer gegenstandsspezifischen Terminologie und Analysemethoden zur Aufgabe gemacht.
Dialog von Wissenschaft und Praxis
Mittlerweile hat sich die Ludomusicology ähnlich der Filmmusikforschung als Teildisziplin fest etabliert und der Aufbau eigener organisatorischer Strukturen ist in vollem Gange. Im August 2011 wurde mit der Ludomusicology Research Group nicht nur die erste dem Thema gewidmete Forschungsgruppe, sondern zugleich die im jährlichen Turnus stattfindende Ludomusicology-Konferenzreihe aus der Taufe gehoben. Von Beginn an stand dabei neben dem interdisziplinären Austausch zwischen Wissenschaftler*innen dezidiert auch der Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis im Fokus. War die Ludomusicology-Jahrestagung mit Ausnahme eines Zwischenspiels in Utrecht im Jahr 2015 ausschließlich an britischen Universitäten zu Gast, kam sie 2018 erstmalig nach Deutschland und war am Zentrum für Musikwissenschaft der HMT und der Universität Leipzig mit über 80 Teilnehmenden die bis dato am besten besuchte Veranstaltung der Reihe. Weitere Forschungsgruppen und –organisationen haben sich seit 2014 auch in den USA und Australien gegründet.
Die 2011 von Michiel Kamp, Tim Summers und Mark Sweeney gegründete Ludomusicology Research Group war die weltweit erste Forschungsgruppe, die sich der Erforschung von Computerspielmusik widmete. 2014 initiierte Steven B. Reale die erste North American Conference of Video Game Music, auf deren Basis 2016 die Ludomusicology Study Group der American Musicological Society ins Leben gerufen wurde.
Im gleichen Jahr gründeten Akteure dieser drei Konferenzreihen in Kooperation mit der Audio Mostly-Konferenz die Dachorganisation Society for the Study of Sound and Music in Games. Im Frühjahr 2017 wurde mit der Ludomusicological Society of Australia eine vierte regionale Gruppe aus der Taufe gehoben.
Dank all dieser Aktivitäten und steigendem Interesse am Thema wächst der ludomusikologische Literaturkorpus seit 2008 kontinuierlich. Seit 2012 werden neben Artikeln und Sammelbänden auch verstärkt Monographien in diesem Bereich veröffentlicht.
Neben der Suche nach einer eigenständigen Terminologie und gegenstandsspezifischen Analysemethoden finden sich historische, ethnologische, philosophische oder kulturwissenschaftliche Studien. Wie hat sich die Computerspielmusik auf den verschiedenen Plattformen (PC, Konsole, Handhelds, Mobile) entwickelt? Wie hängt das mit der jeweils zur Verfügung stehenden Technologie und den Bedingungen des Spielens zusammen? – Schließlich macht es einen Unterschied, ob Spieler*innen zu Hause vor der Konsole oder dem PC mit einem AAA-Titel sitzen, in der Supermarktwarteschlange ein schnelles Mobile Game zocken oder mit Freund*innen in der Arcade spielen. Wie wirkt sich das Spielgenre auf den Musikeinsatz aus? Besteht ein Austausch zwischen Computerspielmusik und anderen musikalischen Genres, wie wirkt sich dieser ästhetisch aus? Welche fankulturellen Musikpraktiken sind aus der oder um die Computerspielkultur herum entstanden, wer übt sie aus und wie lassen sie sich beschreiben?
Aus musikpädagogischer Perspektive wird die Frage diskutiert, ob und wenn ja wie Computerspiele und insbesondere Musikspiele im Musik- und Instrumentalunterricht zum Einsatz kommen könnten. Dabei ist vor allem die oben genannte ludomusikologische Stoßrichtung von Interesse, die auf das spielerische Moment von Musik fokussiert. Projekte wie app2music, bei denen Kinder an den spielerischen Umgang mit Technologie zur Musikerzeugung herangeführt werden, rücken hier in den Blick.
Soundforscher*innen und –designer*innen suchen nach neuen Lösungen zur technischen Implementierung von Musik in Computerspielen oder fragen umgekehrt danach, inwieweit sich die für Computerspiele entwickelten Techniken und Technologien wie zum Beispiel Game Engines oder Peripheriegeräte wie Microsofts Kinect auch in anderen Zusammenhängen z.B. im Rahmen von musikalischen Performances nutzbar machen lassen.
Über dieses Dossier
Dieses Dossier gibt einen einführenden Überblick in einige der vorgenannten Themen und Aspekte. Dabei ist die vermeintlich den Fans und Spieler*innen vorbehaltene Welt der Computerspielmusik schon längst eng mit anderen popkulturellen Formen verknüpft, sodass auch erklärte Nicht-Spieler*innen mit ihr in Berührung kommen. So fanden und finden sich Computerspielmelodien und die 8-bit-Ästhetik nicht nur in den Spielen selbst, sondern auch in anderen Popmusikgenres, in der Werbung, in TV-Serien, im Radio und Kinofilmen. Seit Mitte der 2000er locken Musikspiele wie Guitar Hero (2005) alle Generationen vor die Konsolen und in Gaming-Lounges.
2011 gewann in der Kategorie „Best Instrumental Arrangement Accompanying Vocalist(s)“ mit Christopher Tins „Baba Yetu“ erstmals eine für ein Computerspiel kreierte Komposition einen Grammy. Der Song diente in Sid Meier’s Civilization IV (2005) als Menümusik, der Text ist das „Vater unser“-Gebet in der Sprache Swahili. Der Song wird außerhalb des Spiels immer wieder aufgeführt, darunter in etablierten Konzerthallen wie der Royal Festival Hall oder dem Kennedy Center. Zudem kommt er im Rahmen einer Performance des Dubai Fountain zum Einsatz. Am 14. Januar 2013 in New York stand eine durch den Belgrader Chor Viva Vox aufgeführte A-capella-Version sogar beim Neujahrskonzert der 67. Sitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen auf dem Programm.
War das einleitend genannte Konzert im Leipziger Gewandhaus damals noch ein Novum außerhalb Japans, sind solche orchestralen Live-Konzerte mittlerweile überall auf der Welt gang und gäbe. Jubiläumskonzerte und –konzertserien wie Distant Worlds oder Legend of Zelda – 30 years, auf Computerspielmusik fokussierte Konzertreihen wie Video Games Live oder die Kölner Konzerte des WDR-Rundfunkorchesters ziehen ein junges Publikum in die Philharmonien und sind häufig innerhalb kürzester Zeit ausverkauft. Mit dem bereits seit 2012 vom Landesjugendorchester Bremen veranstalteten German Game Music Award existiert darüber hinaus ein eigener Kompositionswettbewerb für junge Komponist*innen, der 2019 zum dritten Mal veranstaltet werden soll. Computerspielmusik ist insofern als ein Phänomen zu betrachten, das sich von Beginn an auch jenseits der Spiele selbst verbreitet und seine Spuren hinterlassen hat.
Autorin: Dr. Melanie Fritsch
Titelbild: Video Games Live 2011 (Bild von Humberto Bruzetti)
Literatur
[1] UNIVERSITY OF ALBERTA, 2007. Music to a gamer’s ears. Alberta: University of Alberta, 22.08.2007. [Zugriff am: 02.06.2018]. Verfügbar unter: https://www.ualberta.ca/arts/faculty-news/2007/august/musictoagamersears
[2] MOSELEY, Roger, 2008. Rock Band and the Birth of Ludomusicology. EthNoise! The Music, Language, and Culture Workshop. Chicago.
[3] MOSELEY, Roger, 2013. Playing Games with Music (and Vice Versa): Ludomusicological Perspectives on Guitar Hero and Rock Band. In Nicholas Cook und Richard Pettengill, Hrsg. Taking It to the Bridge. Music as Performance. Ann Arbor: University of Michigan Press, S. 279–318.
[4] VAN ELFEREN, Isabella, 2014. Ludomusicology and The New Drastic. In: Ludomusicology – third annual conference on video game sound and music, Chichester. 10. bis 12. April 2014.
Weiterführende Literatur
AUSTIN, Michael, Hrsg., 2016. Music Video Games: Performance, Politics, and Play, New York: Bloomsbury Publishing USA.
COLLINS, Karen, 2008. Game Sound. An Introduction to the History, Theory, and Practice of Video Game Music and Sound Design, Cambridge: MIT Press.
COLLINS, Karen, 2013. Playing with Sound. A Theory of Interacting with Music and Sound in Video Games, Cambridge: MIT Press.
DONNELY, K.J., William Gibbons und Neil Lerner, Hrsg., 2014. Music Video Games. Studying Play. New York.
FRITSCH, Melanie, 2017. Musik. In: Benjamin Beil, Thomas Hensel und Andreas Rauscher, Hrsg. Game Studies. Wiesbaden, S. 87–107.
FRITSCH, Melanie, 2018. Musik und Computerspiele oder wie das ‚Ludo’ in die Musikologie kam. In Christoph Hust, Hrsg. Digitale Spiele Interdisziplinäre Perspektiven zu Diskursfeldern, Inszenierung und Musik. Bielefeld, S. 385–396.
FRITSCH, Melanie, 2018 (in Ersch.). Performing Bytes. Musikperformances der Computerspielkultur. Wiesbaden.
GIBBONS, William, 2018. Unlimited Replays. Videogames and Classical Music. New York.
KAMP, Michiel, Tim Summers und Mark Sweeney, Hrsg., 2016. Ludomusicology. Approaches to Video Game Music. Sheffield.
MOORMANN; Peter, Hrsg., 2013. Music and Game. Perspectives on a Popular Alliance. Wiesbaden.
MOSELEY, Roger, 2016. Keys to Play: Music as a Ludic Medium from Apollo to Nintendo. Oakland.
SUMMERS, Tim, 2016. Understanding Video Game Music. Cambridge: MIT Press.