Eigentlich hatte sich Marco das Kleinstadtleben anders vorgestellt. Nachdem er mit 15 Jahren sein Augenlicht verloren hatte, wollte er einfach nur in Ruhe im Haus seines Großvaters in Angaquara leben. Stattdessen gehen in der Kleinstadt seltsame Dinge vor sich. Menschen verschwinden spurlos. Und als nach seinem Großvater auch noch einige Freunde vermisst werden, macht sich der junge Mann selbst auf die Suche, um herauszufinden, was in Angaquara vor sich geht.
Dieser Beitrag ist Teil des Dossiers Musik & Sound. Eine Übersicht über alle Beiträge des Dossiers gibt es hier | Titelbild-Quelle: Cäcilia Sauer
So beginnt das Audio-Game Breu (2018), ein Thriller, der auf Explosionen, Kamerafahrten und Verfolgungsjagden zumindest bildlich komplett verzichtet. Ähnlich einem Hörspiel wird das komplette Geschehen nämlich allein über den Sound getragen – mit dem Unterschied, dass Spieler*innen hier selbst die Handlung vorantreiben und Marco auf seinen Untersuchungen begleiten. Schauspieler*innen leihen den Figuren ihre Stimmen, während Geräusche und Musik die Umgebung zum Leben erwecken. Der ganze Rest geschieht allein im Kopf der Hörenden.
Breu
Seit drei Jahren arbeitet der Sound-Designer und Komponist Tharcísio Vaz bereits mit seinem Team an Breu, seinem ersten Audio Game. Zu Vaz‘ Team gehören neben einem Game Designer, einem Programmierer und zwei Audio Experten auch gleich 15 Schauspieler*innen und fünf Musiker*innen. Es ist der Versuch, die eigenen Grenzen zu testen, wie der gebürtige Brasilianer selbst verriet:
„Unser Team […] war auf der Suche nach einem neuen Projekt, mit dem wir die Fähigkeiten unseren kleinen Teams austesten konnten. […] Nachdem wir einen interessanten Artikel über Audio Games gelesen hatten und unser Game Designer zufälligerweise einen Vortrag über Audio Games auf einer nationalen Game Development Konferenz besucht hatte, trafen wir uns nach der Veranstaltung und wollten gleich selbst ein Spiel in diesem Format entwickeln.“
Vaz (zweiter v. rechts) und das Musikproduktionsteam von Breu. Bildquelle: Tharcísio Vaz
Aktuell werden noch die letzten Feinschliffe vorgenommen, am 13. Juli 2018 soll das Audio Game dann veröffentlicht werden – zunächst allerdings nur auf Portugiesisch. Eine englische Sprachausgabe ist jedoch in Planung.
Was ist ein Audio Game?
Audio Games sind audiobasierte Computerspiele, also Spiele, die – im Gegensatz zu den meisten Video- und Computerspielen – auf eine visuelle Darstellung (überwiegend) verzichten. Stattdessen wird das Geschehen vor allem über Ton vermittelt, weswegen Audio Games meist auch problemlos oder mit nur wenigen Einschränkungen von blinden und sehbehinderten Menschen gespielt werden können.
Bildquelle: Carsten Busch für Deutschlandfunk
Inwiefern ein Audio Game jedoch tatsächlich auf den Einsatz von visuellen Darstellungen verzichtet und somit wirklich barrierefrei gestaltet ist, variiert stark von Titel zu Titel. Breu soll beispielsweise komplett ohne Bilder auskommen, dahingegen arbeitet die vom Deutschlandfunk produzierte Hör-Spiel-App Blowback – Die Suche (2015) bereits mit Kapitelbildern und visuellen Eingabehilfen. Terraformers (2003), ein „3D-Spiel für Blinde und Sehende“, besitzt neben einem rein audiobasierten Spielmodus sogar einen kompletten visuellen Modus mit dreidimensionalem Design. Die Spieler*innen können jederzeit zwischen beiden Modi wechseln.
Laut AudioGames.net, einer der größten Online-Plattformen für audiobasierte Spiele, müssen Audio Games auch nicht per se auf Bilder verzichten, sollten aber zumindest ihren Fokus auf den Sound setzen:
“Audiogames, as opposed to video games are computer games who’s[sic!] main output is sound rather than graphics. Using sound, games can have dimensions of atmosphere, and possibilities for gameplay that don’t exist with visuals alone, as well as providing games far more accessible to people with all levels of sight.” (AudioGames.net, 2018) [1]
Tatsächlich waren die ersten Audio Games nicht einmal als solche konzipiert: In den 1980er Jahren konnten die damals weit verbreiteten, rein textbasierten Computerspiele einfach über Text-to-Speech-Systeme in Audio umgewandelt werden (Swarts, 2016).[2] Der Vorteil: Mangels visueller Darstellungsmöglichkeiten müssen Textadventures ihre komplette Spielwelt ohnehin über Text beschreiben, sodass sämtliche Spielinformationen einfach über Sprachsynthese ausgelesen werden und Klassiker wie Zork (1980) somit auch problemlos von Blinden gespielt werden konnten. Bis heute erfreuen sich Interactive-Fiction-Games und Textadventures deshalb noch in der Audio Games Community großer Beliebtheit (Damoulakis, 2008).[3]
Versuch eines Marktüberblicks
Mittlerweile haben sich die technischen Gegebenheiten maßgeblich verändert. Einerseits machen grafische Computerspiele eine reine Umwandlung über Sprachsysteme nahezu unmöglich, umgekehrt hat sich auch die Tontechnik deutlich verbessert. Binaurale Tonaufnahmen ermöglichen eine dreidimensionale Darstellung von Sounds, sodass der Hörer ungefähr bestimmen kann, aus welcher Richtung ein Geräusch kommt.
Trotz vielfältiger auditiver Möglichkeiten ist der Audio-Game-Markt noch immer recht klein. Zwar ist vom Renn- bis zum Actionspiel nahezu jedes „klassische“ Computerspielgenre vertreten. Mit gerade mal rund 600 in der Datenbank von AudioGames.net verzeichneten Spieltiteln fällt die Auswahl jedoch nicht sonderlich groß aus. Dass sich allerdings zunehmend mehr kleine professionelle Teams und Sounddesigner an das Ausnahmegenre wagen, zeigen nicht nur Projekte wie Breu, sondern auch erfolgreiche Mobile Games wie die Papa-Sangre-Spiele (2010; 2013) oder auch The Nightjar (2013). Letztere hatten dabei vor allem durch die prominenten Stimmen der Schauspieler Benedict Cumberbatch und Sean Bean auf sich aufmerksam machen können.
Wie wichtig vor allem Smartphones für den Audio-Games-Markt sind, weiß auch Robbie Sandberg, Jugendreferent des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV). Er ist seit seinem dritten Lebensjahr selbst blind und nutzt hauptsächlich das iPhone als Spieleplattform. Von Computerspielen für Blinde hatte er das erste Mal über eine Mailingliste erfahren und bereits einige simple barrierefreie PC-Spiele gespielt, bevor er durch einen Freund auf das Audio Game Papa Sangre aufmerksam gemacht wurde: „Damals besaß ich noch nicht einmal ein iPhone. Ein guter Freund hatte aber eins und besaß auch dieses Spiel, sodass ich Papa Sangre einfach bei ihm spielen konnte. So bin ich auch das erste Mal auf Audio Games gestoßen. Und seitdem lese ich davon gelegentlich in Mailinglisten und in Spielforen oder ich suche im App-Store gezielt nach bestimmten Schlagworten (zum Beispiel blind und Spiel, oder Audio). Dann findet sich immer wieder etwas.“
Eines seiner Favoriten: A Blind Legend (2016), ein englischsprachiges Action-Adventure für iOS und Android, bei dem Spieler*innen einen blinden Ritter auf der Suche nach seiner entführten Frau begleiten. Hilfreich ist auch dessen Tochter, die dem Ritter zur besseren Orientierung gelegentlich Hinweise wie „to the left“ oder „to the right“ zuruft, sodass er sich gegen die immer stärker werdenden Gegner behaupten kann. Die Komplexität, im Vergleich zu anderen, meist eher simpel gehaltenen Audio Games, reizt Sandberg an A Blind Legend besonders: „Natürlich gibt es dort auch Monster und Soldaten, aber die unterscheiden sich voneinander, haben unterschiedliche Angriffsformen. Und vor allem hat das Spiel eine Geschichte, die sich fortsetzt. Da geht es einfach um mehr als dieses pure Überleben unter Monstern.“
Anforderungen an ein Audio Game
Vor welche Schwierigkeiten die Konzeption solcher komplexen Audio Games seine Entwickler*innen jedoch stellen kann, weiß mittlerweile auch Tharcísio Vaz. Mit Breu wollte das Team den Spieler*innen möglichst viele Freiheiten lassen und sah sich dabei mit vollkommen ungewohnten gesellschaftlichen wie auch technischen Problemen konfrontiert:
Außenaufnahmen für Breu.
Bildquelle: Tharcísio Vaz
„Zunächst mussten wir bedenken, ein Zielpublikum mit einzubeziehen, das in der Computerspielbranche oft ignoriert wird: Menschen mit Sehbehinderungen. Uns war es wichtig, sehbeeinträchtige Spieler sowie Wissenschaftler, die sich auf die Entwicklung von Audio Games spezialisiert hatten, zu kontaktieren und in die Testphasen einzubinden“, berichtet Vaz, der zuvor noch nie an einem rein audiobasierten Computerspiel gearbeitet hatte und sich erst völlig neu in die Materie einfinden musste. Auf der technischen Seite erwies sich dagegen die fehlende visuelle Darstellung als große Herausforderung:
„Da Breu die Erkundung eines dreidimensionalen Raums in den Mittelpunkt stellt und es zudem komplett ohne visuelle Elemente auskommt, die dem Spieler sonst hätten helfen können seinen Orientierungssinn zu behalten, müssen viele Informationen allein über Sound vermittelt werden. Nach einigen Testläufen und Diskussionen mit dem Entwicklungsteam entschieden wir uns, ein übermäßiges ‚Voiceover‘ zu Gunsten der Immersion zu vermeiden. Also mussten wir ein System entwickeln, in dem alle Soundschichten (also Sound Effekte, Millieus und sogar der Soundtrack) neben ihrer ästhetischen Funktion dem Spieler zugleich wichtige Informationen liefern konnten.“
Letztendlich löste das Team besagtes Voiceover-Problem durch den Einsatz zufallsgenerierter Musik (Aleatorik), die sich mehr oder weniger spontan an die Aktion des Spielers anpassen sollte. Nähern Spieler*innen sich also während ihrer Erkundungen einem wichtigen Punkt, ändert sich auch die Musik und weist sie darauf hin, eben diesen näher zu untersuchen. Dabei arbeitet der Soundtrack beispielsweise mit vielen Wiederholungen, sodass, auch während bereits Musik läuft, jederzeit neue musikalische Elemente eingeführt werden können.
„Umgekehrte Inklusion“
Vaz und sein Team haben selbst viel mit blinden Spieler*innen zusammengearbeitet und den inklusiven Aspekt von Audio Games als nicht zu unterschätzenden Faktor hervorgehoben. Dass rein audiobasierte Spiele ausschließlich für Blinde entwickelt werden sollten, denkt der Sounddesigner und Breu-Entwickler allerdings nicht:
„Meiner Meinung nach sind Audio Games ein Spielformat, bei dem sich der Entwickler zwar definitiv intensiver mit Themen wie Inklusion und Barrierefreiheit beschäftigen sollte, das jedoch nicht ausschließlich. Ich denke es ist ein Spielformat, bei dem man vor allem die phantasievolle Seite der Spieler anregen kann – ähnlich wie wenn man ein Buch liest und beginnt, sich die Orte, Charaktere und Situationen vorzustellen, von denen der Autor erzählt. Uns war es während des Entwicklungsprozesses von ‚Breu‘ wichtig, ein Spielerlebnis zu erschaffen, bei dem es keine Rolle spielt, ob man sieht oder nicht sieht.“
Die Bestätigung erhielt Vaz schließlich auch in zahlreichen Testphasen, bei denen Spieler*innen mit und ohne Sehbeeinträchtigung gemeinsam Breu spielten. Das Ergebnis: Entgegen der anfänglichen Vermutung vieler Spieler*innen gab es zwischen beiden Spielgruppen keine gravierenden Leistungsunterschiede. Beide schlugen sich gleichermaßen gut oder schlecht durch das Geschehen.
Trailer: Breu
Gerade in dieser Gleichstellung sieht DSBV-Jugendreferent Robbie Sandberg auch das große Potenzial von Audio Games: „Es wird weiterhin viele Spiele geben, die für uns nicht zugänglich sind, und da finde ich es gut, dass es auch eine rein audiobasierte Alternative gibt. Und letztlich sind Audio Games in gewisser Weise umgekehrt inklusiv, schließlich können sie Sehende ebenfalls spielen.“
Während „klassische“ Computerspiele durch ihren starken visuellen Fokus also immer nur in Teilen für sehbehinderte Spieler zugänglich gemacht werden können, begreifen Audio Games diesen barrierefreien Aspekt schon im Vornherein mit ein. Im Gegenteil bieten sie sehenden Spielern sogar Einblicke in ein völlig neues (auditives) Spielerlebnis, das von blinden wie sehenden Spieler*innen gleichermaßen genossen werden kann. Nicht ohne Grund haben es sich Audio Games wie A Blind Legend deswegen nicht nur zum erklärten Ziel gemacht, Spielern mit Sehbehinderungen einen Zugang zu „hochkarätigen“ Computerspielen zu schaffen (DOWiNO, 2016).[4] Gleichzeitig können die rein audiobasierten Spiele auch in der Öffentlichkeit das Bewusstsein gegenüber derartigen Sehbeeinträchtigungen stärken.
Autorin: Cäcilia Sauer | schraeglesen.de
Literatur
[1] AudioGames.net (2018). Welcome at AudioGames.net! Zugriff am 10.06.2018. Verfügbar unter http://audiogames.net.
[2] Swarts, J. (2016). A Look at Audio Games, Video Games For the Blind. Zugriff am 10.06.2018. Verfügbar unter https://www.inverse.com/article/13331-a-look-at-audio-games-video-games-for-the-blind
[3] Damoulakis, A. (2008). A Blind Man’s Take on Interactive Fiction. Zugriff am 10.06.2018. Verfügbar unter https://www.spagmag.org/archives/backissues/spag52_plain.html#blind
[4] DOWiNO (2016). About. Zugriff am 10.06.2018. Verfügbar unter http://www.ablindlegend.com/en/about-us/
Literaturempfehlungen
The Accessibility Foundation (2015). No Pictures Please! Visually impaired gamers: where to go & what to play! Zugriff an 24.06.2018. Verfügbar unter http://game-accessibility.com/documentation/visually-impaired-gamers-where-to-go-what-to-play/
Sauer, C. (2017). Im Dunkeln zerfleischt – Audio Games. Zugriff am 25.06.2018. Verfügbar unter https://spielkritik.com/2017/10/24/gastspieler-im-dunkeln-zerfleischt-audio-games/comment-page-1/