„Computerspiele machen offiziell süchtig“ titelte kürzlich die Tagesschau. Anlass dafür ist die geplante Aufnahme von Computerspielabhängigkeit als Diagnose in das internationale Klassifikationssystem von Krankheiten (ICD) durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Die Verabschiedung ist für 2019 geplant, doch schon die Veröffentlichung des aktuellen Entwurfs sorgte für große Aufmerksamkeit in den Medien. Auch der game bezog Stellung: eine offizielle Anerkennung von „Spiele-Sucht“ als Krankheit sei nicht nur falsch, sondern auch gefährlich. Nach einer kritischen Prüfung der ICD-Kriterien scheint die Panik jedoch voreilig.
Bildquelle (Kopfbild): Marco Verch (CC BY 2.0).
Die Entstehung einer Diagnose: ein normativer Prozess
Die Vorstellung, digitale Spiele würden ab heute süchtig machen, ist ein gefährliches Missverständnis. Denn eine ICD-Diagnose entsteht nicht automatisch. Man muss sich stattdessen bewusst machen, dass der Bildung von Diagnosen und ihren Kriterien normative Prozesse zugrunde liegen. Anders als deskriptive Ansätze liefern normative Prozesse keine möglichst wertfreien Beschreibungen, sondern eine Bewertung. Sie sagen also nicht wie etwas ist, sondern wie etwas sein soll – oder eben nicht sein soll. Die neue ICD-Diagnose behauptet also gerade nicht, dass eine neue Krankheit entdeckt wurde, sondern dass die Gremien der WHO bestimmte Teile des menschlichen Verhaltensspektrums als krankheitswertig erachten.
Solche Einordnungen sind durchaus strittig, wie die eigene Historie des Klassifikationssystems zeigt. Bis 1992 galt beispielsweise Homosexualität im ICD als psychische Störung, obwohl die Diagnose schon lange vorher kritisch diskutiert wurde. Die Aufnahme von Diagnosen ist also nicht nur rein wissenschaftlich geleitet, sondern kann ebenso von kulturellen und gesellschaftlichen Faktoren beeinflusst werden. Sie kann und sollte stets kritisch hinterfragt und neu evaluiert werden.
Tatsächlich ist Computerspielabhängigkeit als Diagnose sehr umstritten. Gerade wegen der damit einhergehenden Konsequenzen: Einerseits können Betroffene leichter erfasst werden, während zugleich neue Therapieansätze entwickelt werden können. Andererseits steht die Befürchtung im Raum, dass das Label zu Stigmatisierung von digitalen Spielen und moralischer Panik führen könnte.
Was ist eine Computerspielabhängigkeit nach ICD-11?
Ein Blick auf die Diagnose-Kriterien gibt eine erste Entwarnung für die Praxis. Auch wenn Eltern und Lebenspartner manchmal besorgt sein können, wenn jemand ein ganzes Wochenende lang in einem Spiel versinkt, ist die bloße Spielzeit laut ICD-11 noch kein Indikator für eine Abhängigkeit. Für die Diagnose einer so genannten „Gaming Disorder“ beschreibt das Klassifikationssystem drei Kriterien:
1. Kontrollverlust über das Spielverhalten. Damit ist beispielsweise gemeint, dass Personen nicht aufhören zu spielen, selbst wenn sie zu einem wichtigen Termin müssen oder dass sie in Kontexten spielen, in denen es völlig unangemessen ist (z.B. während einer Besprechung, im Unterricht oder zuhause beim Essen).
2. Vorrang von Spielen gegenüber anderen Interessen. Hierbei geht es auch um sozialen Rückzug und Abschottung von anderen Personen und Aktivitäten.
3. Eskalation des Spielverhaltens trotz negativer Konsequenzen. Das heißt, Personen spielen weiter oder sogar mehr, auch wenn es dadurch zu Problemen in einem oder mehreren Lebensbereichen kommt – etwa bei der Arbeit, in der Schule, mit der Familie oder mit Freunden – oder gerade auch, wenn das Spielen zu persönlichem Leidensdruck führt.
Für eine Diagnose müssen die Kriterien mindestens über den Zeitraum eines ganzen Jahres bestehen und das persönliche Leben erheblich beeinträchtigen. In diesem Fall ist eine psychologische oder ärztliche Beratung zu empfehlen. Dabei ist wichtig zu beachten, dass hohe Spielzeiten und Episoden intensiven Spielens nicht mit einer Abhängigkeit gleichzusetzen sind.
Ein Blick in die Praxis
Jakob Florack hat als Oberarzt in der Kinder- Jugendpsychiatrie Erfahrung mit betroffenen Jugendlichen. Im Spiele-Podcast Auf ein Bier sprach er über die Diagnose-Kriterien: „Da die Eltern natürlich immer sehr auf dieser Spielzeit herumreiten […] sag ich manchmal: Ja, ich habe auch letztes Wochenende zwölf Stunden gespielt, weil da zum Beispiel Witcher 3 rauskam. Wenn man da in mein Steam guckt, bin ich auch jenseits der 100 Stunden in dem Spiel. Das ist ja vollkommen normal. Das ist eben ein Spiel, das darauf ausgelegt ist, so lange gespielt zu werden.“ Auch er betont negative Auswirkungen auf das persönliche Leben als zentralen Aspekt für die Stellung einer Diagnose. „Das Entscheidende ist letztendlich die Funktion im Alltag: Also schafft derjenige es, in die Schule zu gehen [oder] hat er einen Leidensdruck aus diesem Spielen?“
Eine umstrittene Diagnose
Auf den Seiten der WHO heißt es, „A critical point in engaging with the ICD is that inclusion or exclusion is not a judgement on the validity of a condition or the efficacy of treatment. Thus, the inclusion for the first time of traditional medicine is a way of recording epidemiological data about disorders“. Damit verweist die Organisation auf eine relevante Funktion des Systems: Vergebene Diagnosen können statistisch erfasst und ausgewertet werden, beispielsweise um Forschungsbedarfe abzuleiten und neue Therapieansätze zu entwickeln. Von der Aufnahme in das neue ICD-11 erhoffe man sich, „dass die Forschung verstärkt wird, dass vorbeugende Maßnahmen durchgeführt werden können und dass man sich mehr mit den gesundheitlichen Folgen dieser Sucht befasst“, erklärte WHO-Mitglied Vladimir Poznyak.
Auf der anderen Seite argumentieren Lobby-Verbände vehement gegen den Vorstoß der WHO. Die Entertainment Software Association (ESA) in den USA reagierte in einer offiziellen Meldung forsch und unsachlich. Dort heißt es, der gesunde Menschenverstand und objektive Forschung würden beweisen, dass Videospiele nicht abhängig machen. Felix Falk, Geschäftsführer des Game in Deutschland, fand indessen behutsamere Worte, aber auch er hält die Entscheidung für falsch. Im Interview mit Gamesmarkt sagte er, „für eine solch weitreichende Entscheidung fehlt die notwendige wissenschaftliche Basis“. Damit verweist Falk auf eine vorherrschende Kritik aus der Wissenschaftscommunity an der neuen Diagnose. Bereits 2016 schrieb eine Gruppe von Expert*innen einen offenen Brief[1] an die WHO mit der Bitte, die Einführung der Diagnose zu überdenken.
Stimmen aus der Wissenschaft
Die Wissenschaftler*innen argumentieren, dass die Forschungsgrundlage bislang nicht ausreichend fundiert sei und bestehende Studien häufig von schlechter Qualität seien. Sie befürchten außerdem, dass es dadurch zu einer Panikmache rund um digitale Spiele komme und Spieler*innen aufgrund ihres Hobbys stigmatisiert werden.
Im Februar haben einige Wissenschaftler*innen ein weiteres Paper veröffentlicht, in dem sie die Reaktionen auf den ersten Aufruf berücksichtigen[2]. Dort heißt es „We agree that there are some people whose play of video games is related to life problems. We believe that understanding this population and the nature and severity of the problems they experience should be a focus area for future research“. Die Probleme von Betroffenen ernstnehmen heißt auch, die Diagnose kritisch zu hinterfragen. Dazu zähle beispielsweise mehr Ursachenforschung: Handelt es sich bei exzessivem Spielverhalten um eine eigenständige Störung oder aber um Coping-Verhalten, dem eine ganz andere Störung zugrunde liegt? Mehr und belastbarere Forschung soll helfen, diese Fragen zu klären.
Ein Spezialfall von Verhaltenssucht?
Auch das in den USA genutzte Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) hat bereits 2013 eine so genannte „Internet Gaming Disorder“ in die Liste aufgenommen – allerdings nur als vorläufige Forschungsdiagnose. Während stoffgebundene Abhängigkeiten (z.B. Alkoholabhängigkeit) in beiden Klassifikationssystemen – DSM und ICD – schon lange geführt werden, sind nicht-stoffgebundene Abhängigkeiten, so genannte Verhaltenssüchte, ein Novum. So kennt das ICD-11 neben der neuen Computerspielabhängigkeit lediglich noch pathologisches Glücksspiel.
Prof. Matthias Brand von der Universität Duisburg-Essen forscht zum Thema Online-Mediennutzung. Er und seine Kolleg*innen betrachten Computerspielabhängigkeit eher als Teil einer größeren Internet Addiction, die beispielsweise auch eine problematische Nutzung von Pornographie und Informationssuche beinhaltet[3]. Von einigen Forscher*innen wird sogar ein umfassendes Konzept von Verhaltenssucht herangezogen, welches auch die Abhängigkeit von Essen, Sex und Shopping berücksichtigt.[4] Die Alleinstellung von Computerspielabhängigkeit in den Klassifikationssystemen könnte sich demnach schon bald ändern.
Keine Panik
Die nähere Betrachtung zeigt, dass die ICD-Diagnose sich nicht dazu eignet, Spieler*innen massenhaft zu pathologisieren. Obwohl die Kriterien Spielräume lassen, birgt eine massive Einschränkung in der Lebensführung über den Zeitraum eines vollen Jahres kaum Verwechslungsgefahr mit gesundem Spielverhalten. Einblicke in die klinische Praxis wie Jakob Florack sie gegeben hat, lassen zudem nicht vermuten, dass digitale Spiele pauschal zum Suchtmittel erklärt werden. Auch die Einführung der DSM-Forschungsdiagnose Internet Gaming Disorder im Jahr 2013 führte bislang nicht zu einer Stigmatisierung von digitalen Spielen.
Vor diesem Hintergrund scheint die grassierende Panik um Computerspielabhängigkeit voreilig und unüberlegt. Die Diagnose kann stattdessen Anlass für weitere und neue Reflexion zu digitalen Spielen, dem Umgang mit (Online-)Medien und Verhaltenssüchten im Allgemeinen sein. Missverständliche Vereinfachungen wie „Spiele machen offiziell süchtig“ sind nicht nur unzutreffend, sondern in diesem Kontext auch destruktiv. Wichtig bleibt deshalb, reflektiert und kritisch über das Thema im Gespräch zu bleiben. Kritische Einwände gegen den Vorstoß sind durchaus berechtigt, zugleich kann jedoch nicht in Abrede gestellt werden, dass es Betroffene gibt.
Bei der relativ hohen Diagnoseschwelle (Zeitraum: 1 Jahr), scheint es allerdings unwahrscheinlich, dass ein großer Anteil von Personen definitionsgemäß betroffen ist. Auch die WHO hält den Anteil von Betroffen für klein. Neu gewonnene Aufmerksamkeit kann hingegen dabei helfen, die tatsächliche Zahl zu erfassen, Ursachen zu erforschen und effektive Therapieansätze zu erarbeiten. Vielleicht kann zukünftige Forschung auch die Frage klären, ob wir Computerspielabhängigkeit nicht besser im größeren Rahmen einer Internet-Abhängigkeit denken müssen oder ob sogar ein allgemeiner Verhaltenssucht-Begriff fruchtbarer ist. Vielleicht können wir uns dem Phänomen zukünftig besser nähern und Betroffenen Hilfe zur Verfügung stellen.
Beratungsstellen
Computerspielsucht-Hotline der Uni-Klinik Mainz
Mo bis Do: 08.00 – 16.00 Uhr
Fr: 08.00 – 14.00 Uhr
Tel: 06131 – 17 73 81
verhaltenssucht.de
Bundesweite Sucht- und DrogenHotline
Täglich: 0 – 24 Uhr
Tel: 0 18 05 / 31 30 31
Kostenpflichtig – 0,14 €/min a. d. Festnetz, andere Mobilfunkpreise möglich
BZgA-Info-Telefon
Mo bis Do: 10 – 22 Uhr
Fr bis So: 10 – 18 Uhr
Tel: 02 21 / 89 20 31
Telefonseelsorge
Täglich: 0 – 24 Uhr
Tel: 0 800 111 0 111 oder 0 800 111 0 222 (kostenlos)
Kinder- und Jugendtelefon
Mo bis Sa: 14 – 20 Uhr
Tel: 116 111
https://www.nummergegenkummer.de/
Caritas Deutschland
Online-Beratung
Kreuzbund
Selbsthilfegruppen
https://www.kreuzbund.de/de/
Literatur
[1] Aarseth, Espen & Bean, Dr. Anthony & Boonen, Huub & Colder Carras, Michelle & Coulson, Mark & Das, Dimitri & Deleuze, Jory & Dunkels, Elza & Edman, Johan & Ferguson, Christopher & Haagsma, Maria & Bergmark, Karin & Hussain, Zaheer & Jansz, Jeroen & Kardefelt-Winther, Daniel & Kutner, Lawrence & Markey, Patrick & Nielsen, Rune & Prause, Nicole & van Rooij, Antonius. (2016). Scholars’ open debate paper on the World Health Organization ICD-11 Gaming Disorder proposal. Journal of Behavioral Addictions, 6, 1–4. https://doi.org/10.1556/2006.5.2016.088
[2] van Rooij, A. J., Ferguson, C. J., Colder Carras, M., Kardefelt-Winther, D., Shi, J., & Przybylski, A. K. (2018, February 8). A weak scientific basis for gaming disorder: Let us err on the side of caution. https://doi.org/10.31234/osf.io/kc7r9
[3] Brand, M., Young, K. S., & Laier, C. (2014). Prefrontal control and Internet addiction: a theoretical model and review of neuropsychological and neuroimaging findings. Frontiers in Human Neuroscience, 8, 1–13. https://doi.org/10.3389/fnhum.2014.00375
[4] Grant, J. E., Potenza, M. N., Weinstein, A., & Gorelick, D. A. (2010). Introduction to behavioral addictions. The American journal of drug and alcohol abuse, 36(5), 233–241. https://dx.doi.org/10.3109%2F00952990.2010.491884