Mit Spider-Man für die Playstation 4 kehrt der berühmte Marvel-Held zurück auf Sonys Heimkonsole. Das Action-Adventure von Insomniac spielt im modernen New York und erzählt eine originäre Geschichte, unabhängig von Filmen und Comics. Neben actionreichen Kämpfen und abwechslungsreichen Missionen zeichnet sich das Spiel vor allem durch seine Figurendynamik aus.
Das Spiel spart die Origin-Story der Spinne geschickt aus und startet in medias res. Spider-Man muss zugleich die Stadt beschützen und sein Leben als Peter Parker jonglieren. Spielerisch ergibt das einen runden Mix aus freier Exploration, schnellen Kämpfen, Geschicklichkeitspassagen und kleineren Rätseln. Neben der aufwändig inszenierten Hauptgeschichte kann sich die freundliche Spinne aus der Nachbarschaft auch durch kleinere Nebenmissionen hangeln. Nicht zuletzt durch die gelungene Schwung-Mechanik entwickelt Spider-Man schnell einen angenehmen Flow, der aufregende Passagen gekonnt mit ruhigen Momenten abwechselt.
Der Blick hinter die Maske
Spider-Man hat ein ausgezeichnetes Kampfsystem, eine glaubhafte Spielwelt und einen wirklich motivierenden Spielfluss. All diese Elemente sind auf Hochglanz poliert, aber – das muss man zugeben – sie sind wenig originell. Wenn es aber um die Geschichte und ihre Figuren geht, macht Spider-Man etwas, das zugleich simpel, aber bahnbrechend für ein digitales Spiel ist: es zeigt die Menschen hinter der Maske. Damit geht es über die Konventionen des klassischen Superhelden-Spiels hinaus. Zumeist geben die Genre-Vertreter sich mit einer Power-Fantasy zufrieden, die mit Superkräften wie von selbst einhergeht. Sogar die hoch gelobte Batman: Arkham-Reihe kehrte den Umhang des dunklen Ritters nur zaghaft beiseite, um auf Bruce Wayne, sein Leben und seine Beziehungen zu blicken. Was in Comics und Filmen eine Selbstverständlichkeit ist, wird im digitalen Superheldenspiel jetzt erstmals ausbuchstabiert – nicht nur, indem man Peter Parker spielt, sondern auch, indem man die Rolle seiner Freundin Mary-Jane einnimmt.
Die Dramatik in der Geschichte entsteht nicht etwa deshalb, weil Spider-Man unter Beschuss steht, sondern weil Peter Parkers Leben – und das seiner engsten Vertrauten – auf dem Spiel steht. Die allermeisten Superhelden-Spiele verfehlen diesen Punkt, auch die früheren Spider-Man-Games. Bille Roseman, Executive Creative Director bei Marvel Games bringt es auf den Punkt: „Jede Spider-Man-Geschichte ist auch eine Peter-Parker-Geschichte. Er ist eine der beliebtesten Figuren der Welt – denn er ist wie wir. Und wenn man das versteht, bemerkt man, dass es um mehr geht, wenn er Spider-Man ist und seine Feinde bekämpft. Man weiß, was auf dem Spiel steht, wofür er kämpft.“ Einer der einprägsamsten Momente des Spiels dreht sich nicht etwa um einen spektakulären Kampf, sondern um Peter und seine Tante May.
Hand in Hand
Der Blick hinter die Maske und auf andere Figuren hilft dem Spiel nicht nur bei der Dramaturgie. Es gelingt Spider-Man auch, die Beziehung zwischen den Figuren durch den Perspektivwechsel zu charakterisieren. Zu Beginn des Spiels sind Peter Parker und Mary-Jane relativ frisch getrennt. Peter wollte sie ständig schützen und aus seinen Abenteuern heraushalten – diese Beziehung fand MJ zu asymmetrisch. Mittlerweile arbeitet sie als investigative Journalistin und ist in die Geschichte auch selbstständig involviert. In frühen Spielpassagen schleicht man sich als MJ mitunter durch feindliche Gebiete und muss Gegner ablenken, um nicht gesehen zu werden. Spider-Man entpuppt sich mindestens einmal als Störfaktor und durchkreuzt ihre Pläne, weil er glaubt, sie retten zu müssen. Es kommt zum Streit zwischen den Figuren und die Partnerschaft muss – zunächst für die Ermittlungen – neu ausgehandelt werden.
In einer späteren Passage findet man sich erneut in der Haut von MJ wieder. Dieses Mal arbeitet sie mit Peter jedoch Hand in Hand. Spielerisch bedeutet das, dass sie Spider-Man ein Signal geben kann, wenn die Luft rein ist, um einen Handlanger aus dem Verkehr zu ziehen. Die Entwicklung der Figurendynamik wird auf diese Weise von der Spielmechanik widergespiegelt. Diese Art der Verzahnung von Gameplay und Narration macht die Beziehung zwischen den Figuren ganz anders fühlbar als bloße Cutscenes.
Zwischen Comic und Realität
Nicht alle Aspekte von Spider-Man greifen so perfekt ineinander. Während einiger Spielpassagen vermittelt das Spiel ein Gefühl, das man an das Uncanny Valley erinnert. Ursprünglich beschreibt dieser Begriff ein Gefühl des Unbehagens, das Menschen erfahren, wenn simulierte Personen der Realität sehr nah kommen, aber doch als unecht erlebt werden.
Spider-Man kann vereinzelt etwas Ähnliches auslösen, da es sich auf einem schmalen Grat zwischen Comic und Realität bewegt. Wenn der Schocker Wellen von Energie auf Spider-Man feuert oder wenn Spidey den fast übermenschlich proportionierten Kingpin an der Wand festspinnt, wird eindeutig Comic-Ästhetik bedient. Hilft Spider-Man der New Yorker Polizei dabei, einen bewaffneten Raubüberfall zu entschärfen, bewegt man sich dagegen recht klar in der Realität. Dieses Gefühl wird in einigen Spielszenen auch dadurch verstärkt, dass die Bewegungsästhetik der Spinne stark an die Kino-Verfilmungen (insbesondere die Trilogie von Sam Raimi) angelehnt ist. Schwingt Spider-Man sich am Faden durch New York während die Stadt in gleißendes Orange gehüllt ist, sind die Parallelen offenkundig. Dass das kein Zufall ist, zeigt sich auch am Spiel-Soundtrack, der den ikonischen Stücken von Danny Elfman erfolgreich nacheifert.
Exkurs: Uncanny Valley
Man könnte annehmen, dass virtuelle Figuren mit steigendem Realitätsgrad immer menschlicher erscheinen. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass wir Menschen abstrakte Darstellungen viel eher akpzetieren als fotorealistische. Eine solche Darstellung wirkt meist weniger echt und erzeugt dadurch ein unbehagliches Gefühl.
Psychologisch lässt sich der Effekt dadurch erklären, dass wir andere Maßstäbe an die mentale Kategorie “Mensch” anlegen als an unbelebte Objekte oder nicht-menschliche Lebewesen. Unser Anspruch an das Verhalten eines echten Menschen ist so hoch, dass wir schon kleine Abweichungen als ungewöhnlich und seltsam empfinden. Dagegen fällt es uns leicht, Maschinen zu anthropomorphisieren, wenn sie sich scheinbar wie ein Mensch verhalten. Diese Objekte fallen in eine andere mentale Kategorie (z. B. “unbelebt”) – unsere Ansprüche an diese Kategorie sind deutlich geringer, da wir zugleich wissen, dass es sich nicht um echte Menschen handelt.
Auch die Gewaltdarstellung unterliegt tonalen Schwankungen. Mal werden Bankräuber mit lustigen Sprüchen beherzt eingesponnen, ein anderes Mal erschießen Feinde mit realistischen Waffen andere Menschen. Das ist unter anderem ein Grund dafür, dass der Spieleratgeber NRW Spider-Man pädagogisch ab 14 Jahren einordnet, auch wenn die USK das Spiel ab 12 Jahren freigibt. Ob sich die Grade der Realitätsnähe auf Jugendliche unterschiedlich auswirken, ist in der Forschung noch ungeklärt.[1]
Fazit
Spider-Man ist handwerklich beinahe tadellos und überzeugt spielerisch besonders durch seine flüssigen Mechaniken. Es wirft in seiner Erzählung aber auch einen Blick hinter die Heldenmaske und hebt sich aus der reinen Power-Fantasy in eine für Games außergewöhnliche Auseinandersetzung mit seinen Figuren. Trotz kleiner Schwankungen in der Tonalität ist Spider-Man ein herausragendes Spiel und eines der interessantesten Superheldenspiele der letzten Zeit.
Autor: Benjamin Strobel
Literatur
[1] Kirsh, S. J. (2006). Cartoon violence and aggression in youth. Aggression and violent behavior, 11(6), 547-557. https://doi.org/10.1016/j.avb.2005.10.002