Das aufwendig produzierte Westernepos erzählt die Geschichte des Outlaws Arthur Morgan und der Van-der-Linde-Gang. In einem fiktiven Abbild Amerikas des Jahres 1899 befindet sich die Gruppe von Banditen mitten in den Wirren einer sich durch Zivilisation und Industrialisierung ändernden Gesellschaft. Ihr Lebensentwurf erscheint obsolet. Der Ausgang der als Prequel angelegten Story ist Kennern des Vorgängerteils bereits bekannt. Doch mit etwas Erfahrung hinsichtlich konventioneller Erzählstrukturen ist schnell klar: Es handelt sich um ein Drama.
Titelbild-Quelle: Rockstar Games / Red Dead Redemption 2
Der Anfang der Geschichte
Es beginnt im Tiefschnee. Die Gang hat nach einem missglückten Überfall zahlreiche Verluste zu beklagen und ist merklich angeschlagen. In Planwagen und auf Pferden reisen sie mit Sack und Pack durch Grizzlies, die sichtlich den Rocky Mountains nachempfundenen sind. Sie brauchen Unterschlupf. Die Kälte macht ihnen ebenso zu schaffen, wie der Hunger und die Verletzungen. Doch Anführer Dutch macht allen Mut, malt mit Worten blumige Bilder und spricht vom baldigen Reichtum im gelobten Land der Gesetzlosen. Arthur lebt seit seiner Jugend in der sektenähnlichen Gemeinschaft und ist ihm treu ergeben.
Nach einigen Missionen und der ersten Begegnung mit dem vormaligen Protagonisten und anderen bekannten Personen, geht es schließlich bergab ins Grüne. Und wenn die Gang ihr Lager nahe des Städtchens Valentine aufschlägt, kann man eine riesige, offene Landschaft mit atemberaubenden Naturpanoramen erkunden. Statt diese prozedural zu generieren, wurde hier jeder noch so kleine Winkel „per Hand“ erstellt. Auf diese Weise bleibt kein Bild dem Zufall überlassen. Überall existiert ein Blickfang, der den Erkundungsreiz der Spielenden wecken soll. Die Übergänge zwischen den unterschiedlichen Landstrichen geschehen dabei butterweich. In schattigen Wäldchen hoppeln die Kaninchen, auf den Wiesen leben wilde Mustangs und die nebligen Sümpfe bieten Schlangen eine Heimat – hier entsteht das Gefühl eines natürlichen Ökosystems.
Das Ende einer Ära
Zunächst sind die nahende Zivilisation und Industrialisierung kaum erkennbar. Doch mit den riesigen Schornsteinen, aus denen dicker, schwarzer Rauch quillt, rückt sie spürbar ins Bild. Ist die an New Orleans angelehnte Stadt Saint Deniz am Horizont zu sehen, wirkt der etwas schrullige Arthur wie ein altertümliches Relikt.
Der Zeitgeist eines Amerikas um die Jahrhundertwende mit der problematischen Besiedlungsgeschichte und dem unaufhaltsam herannahenden Kapitalismus ist fortan allgegenwärtig. Der zwischen 1861 und 1865 ausgetragene Sezessionskrieg hat in der Spielwelt deutliche Spuren hinterlassen. Trotz Ende der Sklaverei und Apartheid sind Ausgrenzung und Ausbeutung vielerorts erkennbar und der Konflikt zwischen Nord und Süd längst nicht beigelegt. Da trifft man zufällig im Wald auf Mitglieder des Ku Klux Klans und in Saint Deniz werden rassistische Flugblätter verteilt. Die Ureinwohner fristen in Reservaten zusammengerottet eine ärmliche Existenz und versuchen lediglich mit sporadischen, verzweifelten Angriffen der Ausbeutung zu trotzen. Landbesitzer werden von Eisenbahnmagnaten enteignet und Arbeiter schuften sich für einen Hungerlohn den Buckel krumm, während reiche Menschen wie der Widersacher Mr. Cornwall in Saus und Braus leben.
Fiktion mit historischen Verweisen
Der so genannte „Code of the West“ dem die Gang folgt – also der Ehrenkodex eines Amerikas zur Zeit der Besiedlung – führte zu einer Bewaffnung der Bevölkerung, ungeklärter Rechts- und Besitzverhältnisse, einem aufstrebenden Kapitalismus und Machtbestrebungen. Dies führt im Spiel zu einer situativen Spannung. Man weiß nie, ob jemand die Waffe zückt, wenn Arthur über sein Grundstück reitet oder einfach nur versehentlich angerempelt wird.
Im Gegensatz zu anderen Spielen mit historischem Kontext erhebt Red Dead Redemption 2 (2018) nicht den Anspruch, die Historie möglichst authentisch darzustellen und bleibt erkennbar fiktiv. Dennoch sind die Verweise offensichtlich. Die Grizzlies stellen die Rocky Mountains dar, während Lemoyne den Staat Louisiana repräsentiert. Und in Gesprächen werden reale Orte wie New York erwähnt, obwohl diese nie bereist werden. Dieser Kniff ist bei Rockstar bekannt: auch Spiele wie Grand Theft Auto V (2013) spielen mit der Anlehnung an reale Orte, Personen, Gegebenheiten und deren bewusster Überzeichnung.
Temporeduzierte Inszenierung ohne Komfort
Das Westernepos wird dabei mit reduzierter Geschwindigkeit und mit fehlenden Komfortfunktionen inszeniert. Wo andere Open-World-Games Spieler*innen förmlich mit Tipps und Hinweisen anschreien, jede noch so kleine Betätigungsmöglichkeit auf der Karte markieren und die gesamte Mechanik auf dem Silbertablett servieren, geht Red Dead Redemption 2 sparsam mit Informationen um. Erblickt Arthur etwas Interessantes, macht er eine kleine Skizze in sein Tagebuch. Und die Handlung wird während zahlreicher Ausritte mit den Bandenmitgliedern beinahe nebenbei weitergesponnen.
Viele Stunden sitzt Arthur im Sattel und reitet von A nach B. Eine Schellreisefunktion gibt es nur an vordefinierten Orten. Gerade durch die ablenkenden Betätigungsmöglichkeiten oder spontan entstehende Situationen kann sich der Weg zu einer Mission zu einem abendfüllenden Spießrutenlauf entwickeln. Wenn beispielsweise das gerade herbeigerufene Pferd achtlos über die Gleise trabt und vom herannahenden Zug erfasst wird, der anschließende Diebstahl eines Ersatzgauls misslingt und man sich einige Zeit später im Knast wiederfindet, dann reichen sich Tragik und Komik auf eindrucksvolle Weise die Hände. Zudem steuert sich Arthur im Vergleich zum grazilen Spider-Man wie ein behäbiges Schlachtross. Dieses beschwerliche Gameplay passt zum Setting, lässt allerdings die Konventionen des modernen Videospiels oft vermissen.
Leichen pflastern seinen Weg
Die Spielmechanik wirkt da vergleichsweise gewöhnlich. Die Missionen sind zwar sehr spannend und abwechslungsreich inszeniert, münden allerdings meist in gleichförmig designte Shootouts, bei denen es möglichst die Köpfe der in Horden herannahenden Gesetzeshüter, Kopfgeldjäger, Banditen, ehemaligen Sklaventreiber und anderer zwielichtiger Gestalten geschickt zu treffen gilt – bei Bedarf mit der Zeitlupenfunktion „Dead Eye“ und diversen Zielhilfen. Ähnlich wie bei GTA muss Arthur oft die Flucht antreten. Was dort der Fahndungslevel in Form von Sternen ist, wird hier durch die Einblendung eines steigenden Kopfgeldes visualisiert. Das kann später beglichen werden, ansonsten tauchen in regelmäßigen Abständen die Pinkertons, ein Vorläufer des FBI, auf und machen Jagd auf ihn.
Allerlei zu tun
Manchmal rufen irgendwelche Passant*innen nach Arthur und es obliegt den Spielenden, ob sie den Vorgängen nachgehen möchten. Mal handelt es sich um einen Überfall, dann bittet der einarmige Kriegsveteran um eine Umarmung, andernorts wurde jemand von einer Schlange gebissen. Interessant ist die Tatsache, dass manche der eigenen Taten im Handlungsverlauf aufgegriffen werden. Sauge ich die Wunde mit dem Schlangenbiss aus oder versorge sie medikamentös, so erfährt Arthur bei einer späteren Begegnung im nächstgelegenen Städtchen Dank und eine Belohnung. Es kann aber auch passieren, dass der Patient bei unterlassener Hilfeleitung stirbt und Arthur von einer vorbeireitenden Person des Mordes beschuldigt wird. Das verleiht den Statisten etwas mehr Glaubwürdigkeit.
Einige Zufallsbekanntschaften lösen Questreihen aus, die sich über mehrere Begegnungen erstrecken. Hier trifft Arthur einen Wildtierfotografen, dort bittet ein Tüftler, sein ferngesteuertes U-Boot einem potentiellen Financier vorzuführen. Und manchmal tritt die große Liebe des Outlaws in Erscheinung.
Wer mag, kann sich auch an den zahlreichen Herausforderungen probieren und Arthurs Kompetenzen als Bandit, Entdecker, Glücksspieler, Kräuterkenner, Reiter oder Jäger unter Beweis stellen. Interessant: Hierdurch führt das Spiel an zahlreiche Mechaniken heran und animiert dazu, etwas Neues auszuprobieren. Beispielsweise die Schusswaffe im Holster stecken zu lassen und die Wurfmesser hervorzukramen.
Ein individuelles Spielerlebnis
Bei einem modernen Open-World-Spiel dürfen auch Survival-Aspekte nicht fehlen, weshalb jede Menge Kram gesammelt, hergestellt und individualisiert werden kann. Dazu wachsen der Bauch beim Essen und der Bart im Laufe der Zeit. Kleidung für unterschiedliche Temperaturen und Anlässe, Pferdeausrüstung und Verbesserungen des Camps runden die Individualisierungsmöglichkeiten ab. Letztere bringe sogar Komfort-Funktionen wie eine Schnellreisefunktion von der eigenen Behausung sowie regelmäßige Nahrungs-, Medizin und Munitionsversorgung.
Spannend und intensiv sind die zufällig entstehenden Situationen am Wegesrand. Es gibt viele kleine Details zu bewundern, welche die Kulisse samt Statisten lebendig wirken lassen. Beim Blick durch ein Fenster erwischt Arthur ein Paar beim Sex, woraufhin der Mann seine Frau bittet, die Gardinen vorzuziehen. Und an vormals besuchten Orten ist in der Zwischenzeit merklich etwas passiert. Die Geschehnisse in der Spielwelt werden nicht nur von der lokalen Zeitung rezitiert, sondern auch von den Gang-Mitgliedern aufgegriffen und im Camp besprochen. Dies alles führt zu einer dichten immersiven Welt, in der sich Spieler*innen verlieren können.
Fragwürdige Moral
Das Moralsystem, bei dem Handlungen als ehrenhaft (oder eben nicht) gekennzeichnet werden, stört allerdings die Immersion – jedenfalls nach subjektivem Empfinden. Hierdurch reagieren die Bewohner*innen anders, die Entlohnungen für gezahlte Kopfgelder differieren, was vollkommen als langfristiges Feedback ausreichen würde. Weshalb obliegt es nicht den Spieler*innen selbst, den ethischen Gehalt ihrer Handlungen einzuschätzen? Hier hätte es keinen Balken und keine Einblendungen gebraucht und das Moralsystem wäre unter der Haube viel besser aufgehoben gewesen.
Ludonarrative Dissonanz
Viel zu oft erinnern Open-World-Games an Freizeitparks. Die Karte offenbart, wo es zur nächsten Attraktion geht. Und ständig lenken Beschäftigungsmöglichkeiten von der eigentlichen Mission ab. Da handelt es sich oft um schwerwiegende Dinge wie die Rettung der Welt oder eines geliebten Menschen, die eine gewisse Eile erfordern. Hierdurch kann eine so genannte ludonarrative Dissonanz entstehen. Doch wie geht Red Dead Redemption 2 mit diesem Phänomen um, an dem zahlreiche Blockbuster kranken?
Ludonarrative Dissonanz beschreibt einen „Widerspruch zwischen Spielmechanik und Geschichte samt Figurenzeichnung“. Folgender Beitrag bietet nähere Informationen.
Die fehlenden Komfortfunktionen und die zahlreichen Betätigungsmöglichkeiten drängen sich nicht auf, sondern lassen die Welt authentisch wirken. Zumindest anfangs unterliegt Arthur keinem massiven Handlungsdruck. So lange er nach diversen Eskapaden ins Lager zurückkehrt und ein paar Dollar in die Kasse wirft oder andere Beute großzügig teilt, freuen sich alle. Daher fühlen sich die Ausflüge, abseits von vordefinierten Pfaden, nicht so falsch an, wie oben beschrieben.
In dem Ensemble Drama steht nicht nur die Spielfigur Arthur Morgan im Fokus, sondern auch alle anderen Gangmitglieder. Wäre er Anführer, müsste er sich vorwerfen lassen, dass er sinnlos durch Wälder reitet und seine Zeit beim Poker spielen verschwendet. Aber diese Rolle kommt Dutch zu, dessen Pläne allerdings immer wieder im Rückschritt enden. Als herkömmliches Mitglied trägt Arthur keine unmittelbare Verantwortung für die Misere.
Je weiter die Handlung allerdings voranschreitet, desto weniger authentisch wirkt es, wenn Arthur in den Grizzlies auf die Jagd geht oder im Boot ein paar Fische fängt. Einerseits fehlt später die finanzielle Not, andererseits suggeriert die Rahmenhandlung eine erhöhte Dringlichkeit.
Spiel mir das Lied vom Tod
Wie erst kürzlich im Beitrag zur Ludomusicology erwähnt, spielen auch die Klänge eine wichtige Rolle in Spielen. Mit entsprechend gespitzten Ohren fällt die realitätsnahe Soundkulisse in Red Dead Dedemption 2 auf und sorgt für eine stimmungsvolle Atmosphäre. Der Komponist ist aus anderen Spielen von Rockstar Games bereits bekannt: Woody Jackson hat einen dynamischen und atmosphärischen Soundtrack beigetragen, der mal für ein ruhiges, beinahe meditatives Ambiente sorgt, aber andernorts auch Spannung erzeugt. Über 100 weitere Künstler*innen trugen ihre Werke bei. Sehr sparsam, dafür meist mit emotionaler Wucht, kommen Gesangselemente hinzu, die von Grammy-Gewinner Daniel Lanois exklusiv für das Spiel produziert wurden. Wenn man nach einer abenteuerlichen Exkursion auf sein Camp zureitet und dann ein fantastisch emotionales Lied mit einer sehr seltenen Gesangspassage erklingt – und noch genau in dem Moment endet, wenn das Ziel erreicht ist, dann entsteht Gänsehaut!
Fazit
Das opulent inszenierte Drama der Van-der-Linde-Gang spiegelt den Untergang des Wilden Westens auf ansprechende und anspruchsvolle Weise wider und zeigt den sinnlos erscheinenden Rückzugskampf einer Gruppe Outlaws gegen die herannahende Zivilisation und Industrialisierung. Kenner des Vorgängers wissen, worauf die Geschichte hinausläuft. Alle anderen sollten es unbedingt selbst erleben, Volljährigkeit und ausreichend frei verfügbare Zeit vorausgesetzt.
Autor: Daniel Heinz