Viele Massenmedien verstehen Videospiele ausschließlich als kommerzielles Produkt – immer noch. Auch der vollkommen konstruierte Zusammenhang zwischen Amokläufen und Gewaltspielen ist nicht restlos entlarvt. Unter Journalisten*innen herrscht weiterhin ein großes Misstrauen gegenüber dem Medium, besonders im Fernsehen.
“Die müssen uns doch dankbar dafür sein, dass wir über ihre Branche berichten.” Diesen Satz habe ich in Bezug auf Videospiele oft genug von Medienmachern gehört, wenn auch nur beim privaten Fernsehen. Und mit Dankbarkeit war natürlich eigentlich Geld gemeint. Ich war von 1999 bis 2007 der Spieleredakteur der RTL 2 News, die aus Köln sendeten und Videospiele als ein wichtiges Ressort erkannten, um die Kernzielgruppe der 14- bis 29-Jährigen zu erreichen. In diesen acht Jahren hat der Sender, der seine Zentrale in München hat, vier Gaming-Formate aus dem Boden gestampft. Ich war an keinem der Formate direkt beteiligt, habe ihre jeweilige Genese aber im Detail verfolgt. Wieso keines davon Bestand hatte, liegt auf der Hand.
Dieser Beitrag ist Teil des Dossiers Spiele & Journalismus. Eine Übersicht über alle Beiträge des Dossiers gibt es hier | Titelbild-Quelle: Bioware / Dragon Age: Inquisition
Wer nicht zahlt, bleibt draußen
Die Erwartung der Verantwortlichen bei RTL 2 war, dass eine TV-Sendung über Videospiele sich auf eine schwarze Null herunterrechnen müsse. In der Regel kostet eine produzierte Minute Fernsehen mindestens 1.000 Euro, laufende Kosten nicht eingerechnet. In ein halbstündiges TV-Magazin muss man im Normalfall also mehr als 30.000 Euro pro Folge investieren. In der Anfangsphase von einem der vier Formate sprach man mit den großen Firmen der Branche und sammelte Geld, um möglichst die gesamten Produktionskosten abzudecken. Produktionskostenzuschüsse sind nichts Ungewöhnliches im Fernsehen. Die gibt es sogar bei den öffentlich-rechtlichen Sendern, wenn auch selten. Der redaktionelle Inhalt muss aber davon unberührt bleiben und eine solche Kooperation transparent gemacht werden. Nicht so in diesem Fall: Teil des besagten Formats war eine Rubrik über aktuelle Spielkonsolen, und in den sechs Folgen des Formats tauchte einer der drei Konsolenhersteller überhaupt nicht auf. Dieser Hersteller war als einziger nicht bereit gewesen, Geld zu zahlen. Besonders ausgewiesen wurde dieser Teil der Sendung nicht, etwa als Werbung oder anderweitig bezahlter Inhalt.
Die Normalisierung verläuft in Wellen
Daraus lässt sich eine grundlegende Einstellung gegenüber Videospielen erkennen, auf die man in ähnlicher Form in allen General-Interest-Medien trifft, auch heute noch: Videospiele sind ein kommerzielles Produkt. Punkt. Oft werden in Redaktionen Bedenken geäußert, ob Berichte über Videospiele nicht zu werblich seien. Bei Berichten über Kinofilme, Ausstellungen oder Bücher trifft man auf solche Bedenken dagegen nicht. Und der einzige Unterschied hier ist natürlich Tradition. Andere Kultur- oder Unterhaltungsformen sind ja keineswegs weniger kommerziell, dafür aber etablierter, sowohl in den Redaktionen, als auch in der Gesellschaft als Ganzem. Freilich: in punkto Anerkennung haben Videospiele über die Jahre ein wenig aufgeholt; es hat sich Vieles verbessert. Der Deutsche Kulturrat hat sie bereits 2008 als Kulturgut anerkannt. Und mit der Zeit sind einige Gamer*innen auch in den Organigrammen der großen Medienhäuser angekommen. Diese Entwicklung ist nicht zu unterschätzen. Denn wer etwa mehrere Level-90-Charaktere in World of Warcraft (2004) besitzt, ist relativ immun gegen die pseudo-wissenschaftliche Polemik eines Christian Pfeiffer oder Manfred Spitzer. Im medialen Umgang mit Videospielen hat sich also einiges verbessert. Aber diese Normalisierung verläuft in den meisten Medien nicht linear, sondern in Wellen. Es bedarf nur eines schrecklichen Ereignisses wie eines Amoklaufs oder der Grenzüberschreitung eines erfolgreichen Videospiels hin zum popkulturellen Phänomen, um diese Entwicklung um Jahre zurückzusetzen.
Die Suche nach dem Bösen im Videospiel
Ein aktuelles Beispiel ist der Bericht der ARD-Sportschau über die Fortnite-Weltmeisterschaft vom 28. Juli dieses Jahres. Intensiv spielende eSportler wurden darin mit Süchtigen verglichen, ohne jegliche Trennschärfe oder Einordnung. In ihrer Abmoderation wiederholte Moderatorin Julia Scharf eine Aussage eines Kinder- und Jugendpsychiaters über seine süchtigen Patienten – ohne das Zitat als solches zu kennzeichnen – und übertrug es auf eSportler und Fortnite-Spieler*innen generell: “Kinder, die Tag und Nacht vor dem PC sitzen und sich selbst nicht mehr die Schuhe zubinden können. Jetzt können Sie selbst entscheiden, ob das Sport ist oder nicht.” Noch schlimmer ist der Bericht von Paul Willmann in der Pro7-Sendung Newstime vom 13. März 2018. Darin bezeichnete er Fortnite als “wildes Gemetzel” und redete von einem “Tötungsszenario”. Zweimal wurde behauptet, Jugendschützer*innen schlügen Alarm. Die interviewte Expertin und ihre Organisation distanzierten sich jedoch nach Ausstrahlung von dem Bericht, da sie sich vollkommen falsch zitiert fühlten. Noch ein Beispiel: Nach dem Amoklauf im Sommer 2016 in München mit 10 Toten wurde bekannt, dass der junge Täter intensiv Counter-Strike: Source (2004) gespielt hatte. Der damalige Bundesinnenminister de Maizière redete danach vom negativen Einfluss dieser “gewaltverherrlichenden Spiele” und stellte fest: “Ein Verbot ist in unserem freiheitlichen Rechtsstaat nicht der richtige Weg und wäre auch schwer umzusetzen.” Dabei verbietet §131 StGB seit Jahrzehnten jegliche gewaltverherrlichenden Medien. Die Rechtslage und die zuständige Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien waren dem Bundesinnenminister anscheinend unbekannt. Die Tagesschau um 20 Uhr übernahm den peinlichen Fehler sogar und stellte die sinnfreie Frage: “Sollte man gewaltverherrlichende Videos und Computerspiele verbieten?” Die Abendzeitung München schaffte es nicht einmal, die Alterseinstufung von Counter-Strike korrekt wiederzugeben. Auch die Kriminologin Britta Bannenberg scheiterte daran. Nach jedem Amoklauf ist die Suche nach einem Einfluss von gewalthaltigen Videospielen immer noch ein Beißreflex vieler Journalist*innen – und dabei werden Tugenden wie Sorgfalt und Objektivität allzu oft ignoriert. Denn keine einzige Studie hat je einen solchen kausalen Zusammenhang belegt. Und die Mehrzahl der Amokläufer[1] an Schulen spielte gar keine Gewaltspiele. Das wiederum ist nachgewiesen.
Führen Bananen zu Suizid?
Die Studie, die das nachweist, ist in Zusammenarbeit mit dem Secret Service der Vereinigten Staaten entstanden; einem Teil des US-Innenministeriums, dessen Mitarbeiter*innen täglich im Weißen Haus ein- und ausgehen. Auch wenn sie bereits 2004 veröffentlicht wurde, dürfte eine Kopie in unmittelbarer Reichweite von Präsident Trump stehen. Der aber, so darf man unterstellen, hat sie nicht gelesen und setzt stattdessen darauf, dass eine neu angefachte Diskussion um gewalthaltige Unterhaltungsmedien die tatsächlichen Waffen aus der Schusslinie bringt. Er beklagte erst im August die Verherrlichung von Gewalt, besonders in “grauenvollen und grässlichen Videospielen.” Für Jugendliche sei es heutzutage zu einfach, “sich mit einer Kultur zu umgeben, die Gewalt zelebriert.” Laut besagter Studie haben sich 7 von 8 Amokläufern an US-Schulen überhaupt nicht für Gewaltspiele interessiert. Auch Filmen wurde kein großer Einfluss beigemessen. Am ehesten wurden diese Täter durch eigene Schriften und Videos inspiriert und die ihrer Vorgänger. Was sollte dann mehr Sorge bereiten? Dass der Massenmörder und Rechtsterrorist Anders Breivik die Kriegsspielreihe Call of Duty (ab 2003) in seinem 1.500 Seiten umfassenden Manifest erwähnt – oder dass dieses Manifest an sich existiert und für jedermann im Internet zugänglich ist? Auch die hohe mediale Aufmerksamkeit bei Amokläufen scheint ein entscheidender Faktor zu sein, um die jeweils nächste Generation an Tätern zu befeuern.
Ein Lichtblick: Seit diesem Jahr fallen zahlreiche US-Medien nicht mehr auf das Killerspiel-Märchen herein. Forbes schrieb, dass die Wissenschaft Trumps Behauptungen nicht untermauere und erwähnte die Studie von 2004. Die New York Times zitierte einen Psychologen mit den Worten: “Die Daten darüber, ob Bananen zu Suizid führen, sind in etwa genauso aufschlussreich.” Und ein kanadischer Komiker erntete viel mediale Aufmerksamkeit für ein Video, in dem er Videospiele für seine kaputte Toilette und verformte Pfannkuchen verantwortlich machte.
Wer gegen den Strom schwimmt ist angreifbar
So fortschrittlich die RTL 2 News mit der frühen und intensiven Berichterstattung über Videospiele seinerzeit auch waren, zum Amoklauf in Erfurt 2002 wurden diese Fakten unterschlagen, wie in wohl allen Medien. Es war keine abweichende Berichterstattung zu der pauschalen Verurteilung von RTL gewünscht – und ich musste sehr dafür kämpfen, nicht auch noch selbst, mit meinen eigenen Beiträgen in den Sermon der Verteufelung mit einzustimmen. Nach meiner Erfahrung ist eine bedeutende Hürde bei der Auswahl und Ausrichtung von redaktionellen Themen die Frage, ob andere Redaktionen es bereits so gemacht haben. Ganz grundsätzlich schwimmt keine Redaktion gerne gegen den Strom, jedenfalls keine ohne die Ressourcen, eigene Informationen wasserdicht zu recherchieren. Denn wer als Einziger etwas vermeldet oder eine andere Perspektive darstellt, macht sich damit angreifbarer. Das fängt mit harmlosen Meldungen an, wenn etwa ein Künstler stirbt und die nachrichtliche Relevanz nicht offensichtlich ist. Wenn es darum geht, die Flughöhe einer solchen Meldung festzustellen, ist der erste Schritt von verantwortlichen Schlussredakteur*innen meist der Blick auf die affiliierten Redaktionen oder die Konkurrenz. Das stellt eine gewisse Absicherung dar: Aha, die haben das ebenfalls geprüft und kommen zu dem Schluss, dass man es melden sollte, und zwar genau so.
Das ist ganz natürlich. Denn selbstverständlich besteht innerhalb einer Senderfamilie, Verlagsgruppe oder ähnlichem Verbund der Wunsch, einander nicht zu widersprechen. Die entscheidende Frage ist dann nur, wer den Ton angibt. Meist sorgt es dafür, dass sich innerhalb eines Verbundes eine kleinere Redaktion weitgehend auf die Recherchen einer größeren verlässt. Diesem Mechanismus war aber auch geschuldet, dass nicht etwa die kleinen RTL 2 News mit einem kundigen Fachredakteur den großen Bruder RTL in punkto Videospiele beraten haben, sondern umgekehrt die Berichterstattung von RTL auch zu unserem Maßstab wurde und werden musste.
Mediales Grundrauschen
Undenkbar, in der Berichterstattung über den Täter von Erfurt nicht Counter-Strike als mögliche Ursache zu erwähnen. Und so baten die Schlussredakteure seit 2002 grundsätzlich darum, immer von dem “bei Kritikern umstrittenen Counter-Strike” zu sprechen, wenn ich nicht gleich erwähnen sollte, dass dieses Spiel “mit Amokläufen in Verbindung gebracht werde”. Welche Kritiker das sagten, ob es auch gegenteilige Meinungen gab und was davon wissenschaftlich belegt war, wussten die Schlussredakteure natürlich nicht. Das war auch irrelevant. Denn reicht nicht der gesunde Menschenverstand für die Behauptung, dass gewalthaltige Games zu Gewalt anregen oder wenigstens Hemmschwellen senken? Es liegt doch auf der Hand, dass die Mehrzahl der Amokläufer an Schulen diese Spiele gespielt hat, oder? Noch einmal: Keine dieser Behauptungen ist wahr – oder wird zumindest durch keine Studie untermauert. Was den Amoklauf in Erfurt betrifft, moniert der Abschlussbericht[2] der eingesetzten Kommission übrigens ein “nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmendes Bild”, was das Spiel Counter-Strike betrifft. Der Täter habe damit nicht, wie in einem Buch[3] behauptet und von zahlreichen Medien übernommen, die Nächte durchgespielt, und es sei auch “kein Dauerbrenner” für ihn gewesen. In Gesellschaft und Medien dürfte weiterhin ein anderer Eindruck vorherrschen. Aus der Summe dieser vielen, scheinbar intuitiven, aber falschen Behauptungen, die Journalist*innen allzu oft ungeprüft aus anderen Quellen übernehmen, entsteht ein mediales Grundrauschen, das in den beschriebenen Nachrichtenlagen immer noch den Ton angibt. Jedenfalls dort, wo es noch keine Gamer*innen in das Organigramm geschafft haben.
Eine kuriose Symbiose
Dabei sind Videospiele nicht ganz unschuldig an dem Misstrauen vieler Medienmacher*innen. Einige wenige Entwickler*innen haben schon immer diesen Mechanismus ausgenutzt und für Publicity missbraucht. In den achtziger Jahren lebten Studios wie Exidy (Chiller, 1986) oder Mystique (Custer’s Revenge, 1982) ausschließlich davon, miserable Videospiele inhaltlich so provokativ zu gestalten, dass sie regelmäßig von empörten Journalist*innen in ihren Berichten erwähnt und gezeigt wurden. Später übernahmen Studios wie Running with Scissors (Postal, 2007) diesen Part. Auch einige kompetente und teils herausragende Studios kokettierten mit vollkommen übertriebener Gewalt und brachten Spiele wie Mortal Kombat (ab 1992), Harvester (1996), Manhunt (ab 2003) oder The Punisher (2005) auf den Markt. All diese Spiele haben dem Medium an sich einen Bärendienst erwiesen. Denn immer wenn ein Kritiker wie Christian Pfeiffer behauptete, in Videospielen könne man unbewaffnete, hilflose Figuren quälen, foltern und töten, fanden sie tatsächlich Beispiele dafür. Zwischen den fragwürdigen Wissenschaftler*innen und den oben genannten fragwürdigen Studios entwickelte sich eine kuriose Symbiose. Im Dezember 1996 stellten zwei US-Senatoren eine Liste mit aus ihrer Sicht übertrieben gewalthaltigen Videospielen vor. Der Produzent von Harvester beklagte sich daraufhin, dass sein Videospiel nicht auf der Liste stehe. Es sei doch gewalthaltiger als alle anderen erwähnten Titel, beteuerte er.
“Wollte eigentlich zur Tagesschau, jetzt testet er Videospiele”
Es ist das mediale Grundrauschen, das auch dafür sorgt, dass Videospiele immer noch weitgehend als Kommerz und nicht als Kultur verstanden werden. Nur ein paar Monate vor dem Amoklauf von Erfurt schrieb der Spiegel ausführlich über die RTL 2 News. Mein damaliger Redaktionsleiter ordnete in dem Artikel das Ressort Videospiele so ein: “Das ist eben unsere Wirtschaftspolitik.” Genauso gut hätte er meine Berichterstattung mit dem Feuilleton vergleichen können, alldieweil ich nur selten wirtschaftliche Aspekte in den Vordergrund stellte. Aber nein: Videospielberichte waren ganz selbstverständlich Wirtschaft. Im selben Artikel schrieb der Spiegel-Autor über mich: “Andreas Garbe, 28, wollte eigentlich zur Tagesschau. Er hat in England Philosophie und Politik studiert und dort eine Magisterarbeit über den Weichspüleffekt in Nachrichtensendungen geschrieben. Jetzt testet er Videospiele.” Welch Ironie des Schicksals, unterstellt hier der Autor. Seriöser Journalismus und Videospiele seien doch gänzlich unvereinbar, Videospielberichte nur Pressemitteilungen mit Bewegtbild. Was der Mann, selbst Wirtschaftsjournalist, anscheinend nicht wusste: Der Spiegel hatte zu diesem Zeitpunkt selbst schon hunderte Artikel über das Medium veröffentlicht. Nur eben nicht im Ressort Wirtschaft.
Zur Person
Andreas Garbe berichtet seit rund 20 Jahren über Videospiele im deutschen Fernsehen. Seit 2007 ist er beim ZDF, zunächst bei 3sat und inzwischen im heute-journal. Er teilt hier einige seiner Erfahrungen bei den RTL 2 News und einige grobe, nicht personenbezogene Details zu internen Vorgängen ohne Bedenken, weil es die Sendung in der Form nicht mehr gibt und auch keine der betroffenen Personen noch bei dem Sender oder in einer vergleichbaren Position arbeitet.
[1] Die große Mehrzahl dieser Täter ist männlich.
[2] S. 337
[3] Geipel, I. (2004). “Für heute reicht’s”: Amok in Erfurt. Berlin: rowohlt.
Gut formuliert, Andreas