Spielejournalismus verliere an Bedeutung, sagen manche. Michael Graf (GameStar) wundert das. Er arbeitet heute journalistischer als jemals zuvor.
„Journalisten sind universelle Dilettanten“, pflegte mein Ausbilder an der Journalistenakademie zu predigen, um das Berufsbild seiner Klasse zu schärfen und Luftschlösser zu zertrümmern, bevor sie überhaupt entstehen konnten. Es gebe, so sein Tenor, für Journalist*innen keinen größeren Fehler als den Irrglauben, alle Antworten zu kennen. Journalist*innen zeichneten sich dadurch aus, dass sie die richtigen Fragen kennen – und hart daran arbeiten, die Antworten von denen zu bekommen, die wirklich etwas zu sagen haben.
Dieser Beitrag ist Teil des Dossiers Spiele & Journalismus. Eine Übersicht über alle Beiträge des Dossiers gibt es hier | Titelbild: Benjamin Strobel / Grimme Game
Was haben wir gelacht. Als ich 2004 meine Ausbildung absolvierte, stand „Spielejournalismus“ gleichbedeutend für Produktjournalismus, die relevantesten Fragen für Spielemagazine lauteten: „Ist das Spiel neu?“, und falls ja: „Ist es gut?“ Beide Fragen konnte niemand besser beantworten als wir Spielejournalist*innen, die von den Herstellern mit Testexemplaren versorgt wurden, oft lange bevor die Spiele auf den Markt kamen. Wir kannten die Fragen und die Antworten. Wir waren diejenigen, die etwas zu sagen hatten. Wir waren die Expert*innen.
Heute kommt mir diese Zeit so fern, so rückständig vor, dass sie sich so anfühlt, als hätten wir unsere Texte damals noch in Granittafeln gemeißelt. Es wäre vermessen, zu behaupten, dass wir Spielejournalist*innen uns selbst weiterentwickelt, uns selbst auf eine neue Evolutionsstufe gehoben hätten. Würde die Welt noch so funktionieren wie 2004, lägen wir weiterhin in unserer kuscheligen Produktecke. Doch der Medienwandel und der Wandel des Spielemarktes schubsten uns raus aus der Komfortzone, rein in eine neue Welt, deren Gesetze sich ganz leicht zusammenfassen lassen:
Spielejournalismus ist endlich Journalismus, wie ihn mein Ausbilder stets predigte. Wir sind keine Expert*innen mehr. Wir kennen keine Antworten mehr. Umso wichtiger ist, dass wir die richtigen Fragen stellen.
Der neue Spielemarkt
Expertise ist eine Frage der Exklusivität. Wenn ich fünf Jahre lang Psychologie studiert habe, weiß ich (hoffentlich) mehr über Denk- und Verhaltensmuster als Menschen, die diese fünf Jahre anders verbracht haben. Ich investiere viel Zeit – und wahrscheinlich Geld – in einen Wissensvorsprung. Ähnlich funktionieren moderne Spiele-Communitys. Wir leben im Zeitalter der „Service-Games“, der Videospiele, die nach ihrem Erscheinen jahrelang laufen und gespielt werden, sodass eigene Ökosysteme und Kulturen entstehen.
Daten belegen, dass dabei immer mehr Menschen immer länger einem einzelnen Spiel die Treue halten. Wer Fortnite (2017) liebt, eines der größten und meistdiskutierten Games der letzten Jahre, spielt nichts anderes mehr. Nicht umsonst mahnte der Netflix-Chef Reed Hastings im Januar 2019, dass sein Streamingdienst inzwischen mehr mit Fortnite konkurriere als mit dem TV-Serienproduzenten HBO. Spiele sind längst keine Nische mehr, sondern ein fester Bestandteil der Alltagskultur, in den viele Menschen erhebliche Mengen ihrer Freizeit investieren. Bei Fortnite alleine sprechen wir von über 78 Millionen aktiven Spieler*innen pro Monat, bei Minecraft von 112 Millionen.
Und wir sprechen eben nicht nur über Fortnite und Minecraft. Roblox, die FIFA-Serie und andere Spiele bilden ähnlich exklusive Gemeinschaften, dank des Internets weltweit verknüpft und mit jeweils eigenen Gepflogenheiten, eigenem kulturellen Code. Der Tanz, mit dem Antoine Griezmann sein Tor im Finale der Fußball-Weltmeisterschaft bejubelte, stammte aus Fortnite. Und Angela Merkel frotzelte auf der gamescom über den veralteten Pixellook von Minecraft. Videospielkultur ist Populärkultur. Und manche Spiele sind so groß, so erfolgreich, dass sie in ihrer Bedeutung vieles überstrahlen, was neu auf den Markt kommt.
Neu heißt nicht mehr automatisch interessant. Für Spielejournalist*innen bedeutet das ein radikales Umdenken. Wenn Menschen sehr viel Zeit, oft Jahre in ein einzelnes Spiel stecken, dann ähneln sie den eingangs erwähnten Psychologiestudierenden: Sie erarbeiten sich Expertise. Eine Expertise, die Journalist*innen nicht teilen können, wenn sie weiterhin ihrem journalistischen Auftrag gerecht werden und über alles berichten wollen, was Relevanz besitzt. Es gibt in diesem riesigen und wunderbar vielfältigen Markt ja nicht nur Fortnite und Minecraft. Zum Glück, mögen manche seufzen. Fortnite und Minecraft ignorieren kann ich als Journalist aber auch nicht. Was also tun?
Ich weiß, dass ich nichts weiß
Das Ergebnis heißt – nun werden alle altgedienten Journalist*innen von Spiegel bis Welt, von Zeit bis FAZ die Augen verdrehen -, das Ergebnis heißt Recherche. Ja, das liegt auf der Hand, aber diese Hand hielt in unserem Fall bislang meist ein Gamepad, um Antworten zu finden. Das tut sie manchmal immer noch. Aber oft reicht es nicht mehr, Spiele selbst zu spielen, wenn man dabei doch nur an der Oberfläche kratzen kann. Das bedeutet nicht, dass unsere User nicht mehr interessiert, was wir sagen – im Gegenteil, Kolumnen bleiben außerordentlich beliebt. Es heißt nur, dass wir nicht zu allem etwas sagen können.
Wer relevanten Reichweitenjournalismus anbieten möchte, muss verstehen, dass er selbst nicht immer gute Antworten geben kann und stattdessen recherchieren muss, wer die besseren hat. Das bedeutet häufig: die Spieler*innen selbst. Moderner Spielejournalismus öffnet sich Communitys, knüpft Kontakte zu Spieler*innen. Für „klassische“ Journalist*innen ist der Gedanke absurd, eine Fachfrage selbst zu beantworten. Wer in einem Artikel erklären will, warum Menschen hanebüchene Verschwörungstheorien glauben, spricht selbstverständlich mit Psycholog*innen oder Soziolog*innen, und spinnt nicht einfach selbst Erklärungen zusammen. Spielejournalist*innen müssen das erst lernen.
Für sie kommt hinzu, dass sie dabei manchmal über ihren Schatten springen müssen. Denn die benötigte Expertise kann bei einer Berufsgruppe liegen, von der sich Spielejournalist*innen um jeden Preis abzugrenzen versuchen: den Influencer*innen. Natürlich existiert diese Abgrenzung tatsächlich: Journalist*innen bedienen die Interessen der Allgemeinheit, Youtuber*innen und Livestreamer*innen hingegen ihre eigenen, zumindest im Regelfall. Zugleich kennen sich spezialisierte Influencer*innen jedoch deutlich besser mit bestimmten Spielen und Spielegattungen aus, als es Journalist*innen jemals könnten.
Das kann eine Zusammenarbeit sehr fruchtbar machen: Influencer*innen steuern das Fachwissen, die Antworten bei, Journalist*innen stellen die Fragen. Womit wir beim Knackpunkt wären: den Fragen.
Im Journalismus muss man schielen
Moderner Journalismus ist datengetriebener Journalismus. Das Internet gibt uns einen riesigen Koffer voller Werkzeuge an die Hand, mit denen wir herausfinden können, was die Menschen da draußen im Allgemeinen und die Besucher unserer eigenen Plattformen im Speziellen interessiert. Das kann sich unterscheiden. Wichtig ist, eine Brücke zu schlagen zwischen beiden Zielgruppen: Welche Themen bringen uns neue User auf die Seiten, und welche bedienen wir für diejenigen, die uns bereits regelmäßig besuchen?
Diese Abwägung ist elementar, denn beide Gruppen sind wertvoll. Wer berauscht von Google-Analysen und Co. die „Alten“ vernachlässigt, verzerrt das eigene Markenimage. Wer die „Neuen“ aussperrt, sägt an der eigenen Zukunftsfähigkeit. Niemand sagt, Spielejournalismus sei einfach. Spiele sind so vielfältig und Spielerinteressen so fragmentiert, dass wir oft hitzig darüber diskutieren, welche Themen nun wirklich drängen und welche warten sollen, welche Fragen wir jetzt beantworten müssen, welche später – und welche gar nicht. Nicht immer liegen wir dabei richtig.
Denn obwohl Daten dabei helfen, die relevanten Fragen zu finden, dürfen sie nicht unsere einzige Quelle sein. Es lohnt sich, die Communitys bestimmter Spiele oder Spielegenres zu beobachten, etwa auf der Forenseite Reddit. Was dort diskutiert wird, offenbart Einblicke in aktuelle Themen- und Problemfelder gepaart mit beeindruckender Expertise aufseiten der Spieler*innen. Wer wochenlang die Mechanik eines Online-Titels analysiert hat, veröffentlicht seine Erkenntnisse nicht selten genau dort. Das hat journalistischen Nachrichtenwert.
Im Journalismus muss man also schielen: Ein Auge blickt auf die Daten, das andere beobachtet die Communitys. Das Gehirn, an das beide Augen funken, muss beides zu relevanten Geschichten verbinden, und zwar auf Basis derselben Relevanzkriterien, mit denen Journalist*innen seit jeher arbeiten: Wir bedienen Aktualität, erkennen Veränderungen, hinterfragen Trends und ordnen Neuerungen ein.
So müssen wir unseren Besucher*innen zu jedem Zeitpunkt etwas anbieten, das ihnen dabei weiterhilft, einzelne Spiele oder die Entwicklung der Spielebranche im Ganzen besser zu verstehen. Sei es, um informiertere Kaufentscheidungen zu treffen, oder um einfach mitreden zu können bei wichtigen Themen. Journalist*innen arbeiten ja nicht für sich selbst, sondern stehen im Dienste ihres Publikums. Noch ein Gedanke, der sich in vielen „alten“ Köpfen erst durchsetzen musste.
Die Mauer muss weg
Und damit zum letzten Knackpunkt: Unser Publikum erreichen wir nicht allein auf einer Website. Denn das moderne Internet führt Menschen nicht zwangsläufig auf bestimmte Internetseiten, es führt sie nicht mal zwangsläufig auf Google. Es gibt Spieler*innen, die sich ausschließlich über Youtube informieren, ausschließlich Podcasts hören, ausschließlich Livestreams auf Twitch anschauen, ausschließlich auf Facebook oder Instagram die Links und Fotos ihrer Freunde scannen. Jede Plattform folgt anderen Gesetzen, einer anderen Ansprache und Aufmerksamkeitsspanne.
Es ist eine Herausforderung, trotzdem darf sich moderner Journalismus nicht auf der eigenen Website (oder im eigenen Heft) einmauern, sondern muss sich hinaus auf andere Plattformen wagen, um Menschen zu erreichen. Moderner Spielejournalismus vernetzt Plattformen – und arbeitet zugleich transparent. Redakteur*innen von anderen Medien klagen oft, es sei unmöglich, gleichzeitig Reichweitenthemen zu bedienen und hinter einer Paywall reichweitenunabhängigen Magazinjournalismus anzubieten. Doch, das geht, und wenn man offen erklärt, warum dieser Spagat wirtschaftlich notwendig ist, dann verstehen das auch die User.
Und ja, auch das gehört zum Journalismus: Menschen müssen verstehen, warum wir tun, was wir tun – sonst grassiert erst Misstrauen, dann Ablehnung. Wir müssen erklären, wie wir denken, was wir verändern, um weiterhin unsere Arbeit machen zu können. Und wir müssen erklären, welchen redaktionellen Idealen und Leitlinien diese Arbeit folgt, wofür wir als Journalist*innen in der heutigen Zeit stehen wollen und können.
Dass heute manch ehemaliger Chefredakteur mal nostalgisch, mal belehrend auf eine Zeit zurückblickt, als dieser intensive Austausch mit dem Publikum noch nicht „notwendig“ war, geschieht im Wissen, diesen Austausch selbst nicht angestoßen oder mindestens gescheut zu haben. Denn natürlich ist das mühsam, natürlich kann die Kommunikation von Veränderungen beiden Seiten wehtun. Doch ohne Veränderung kein Fortschritt, und ohne Fortschritt keine Zukunft.
Ich möchte gar nicht sagen, dass ich für all diese Herausforderungen die Musterlösungen kenne. Aber ich kann sagen, dass ich mich heute viel mehr wie ein Journalist fühle als 2004. Viel mehr wie jemand, der Fragen erkennen und Antworten recherchieren muss. Ein universeller Dilettant, der sich in jedes Thema einarbeiten kann, das sein Publikum spannend findet. Und spannende Themen, das ist die frohe Botschaft, werden dieser irren Spielebranche niemals ausgehen.