Nach dem rechten Terror-Anschlag von Halle wurde schnell bekannt: der Täter radikalisierte sich im Netz. “Rechtsterrorismus, inszeniert wie ein Computerspiel” titelte Der Tagesspiegel. Spielefans befürchteten daraufhin eine Neuauflage der Killerspieldebatte. Letztlich geht es aber um mehr als das: Um solche Taten zukünftig zu verhindern, müssen ihre Hintergründe besser verstanden werden. Eine Bestandsaufnahme.
Titelbild: Counter Strike: Global Offensive / Valve [bearbeitet]
Die Rückkehr zur Killerspieldebatte?
Nach der Äußerung von Innenminister Horst Seehofer, man solle „die Gamer-Szene stärker in den Blick nehmen“, wurden zunächst Stimmen laut, die ein Wiederaufleben der Killerspieldebatte befürchteten – und damit eine erneute Stigmatisierung von digitalen Spielen. „Die Intensität der Killerspieldebatte der 2000er wird jedoch zu keinem Zeitpunkt erreicht“, sagt uns der Kulturwissenschaftler Christian Huberts im Interview. „Mein Eindruck ist, dass das Vorschützen der Killerspieldebatte gerade in der Spielekultur dafür genutzt wird, von existierenden problematischen Teilaspekten abzulenken.“ Auch die Journalistin Michelle Janßen befürchtet keine erneute Kontroverse. Digitale Spiele selbst als Ursache zu betrachten, hält sie für unangemessen. Uns gegenüber sagt sie im Interview: „Die Strukturen für Radikalisierung im Gaming-Bereich sind viel komplexer und tiefergehend, und mit den Spielen als ‘Bösewicht‘ nimmt man der Gaming-Community jeden Grund, tatsächlich zu reflektieren.“
In der Zwischenzeit hat sich Horst Seehofer noch einmal weitaus differenzierter geäußert und das Thema wurde in diversen Publikationen mit mehr Distanz und Sensibilität aufgegriffen. So schreibt etwa Christian Stöcker für Spiegel Online: „Es gibt keinen simplen Kausalzusammenhang zwischen Videospielkultur und rechtsradikal motiviertem Massenmord. Aber es gibt eine Geschichte der Radikalisierung innerhalb eines kleinen Teils derer, die Videospiele als Teil ihrer eigenen Identität betrachten. Wenn man darüber mit Menschen redet, die sich selbst als Gamer identifizieren, erntet man aber bis heute oft nur wütende Abwehrreflexe. Das muss sich ändern.“ Pauschale Verdächtigungen würden hierbei aber nicht weiterführen, denn Spiele-Communitys seien keine homogene Szene, glaubt Christian Huberts. „Ich halte es aber für sinnvoll, jene Gaming-Communitys besser zu beobachten, in denen Menschenhass geduldet oder verharmlost wird.“
Es ist, da sind die Expertinnen und Experten sich überwiegend einig, essenziell wichtig, diese neue Debatte differenziert zu führen. „Um zu verstehen, wie es zu Angriffen wie in Halle kommt, muss man das große Bild sehen, dazu zählen beispielsweise auch struktureller Antifeminismus und abwertende Sprache“, meint Michelle Janßen. Statt auf Oberflächenmerkmale des Mediums zu fokussieren, geraten im Diskurs jetzt zunehmend auch dahinterliegende Tiefenstrukturen in den Blick. Viele davon sind eigentlich kein Geheimnis.
Die Rolle des digitalen Spiels bei der Radikalisierung im Netz
„Der Attentäter nutzte die Plattformen, Kulturtechniken und Sprachmuster der Gaming-Kultur“, erklärt Huberts, der sich seit vielen Jahren mit digitalen Spielen beschäftigt. „Sein Livestream und seine veröffentlichten Notizen zielen auf ein Gaming-affines Publikum, nutzen entsprechende Rhetorik und Codes. Er inszeniert seinen versuchten Massenmord – im Livestream und den veröffentlichten Dokumenten – als spielerischen Leistungswettkampf, bei dem es Waffen und Strategien zu erproben, Achievements zu erreichen und ein Publikum zu unterhalten gilt. Er ahmt gezielt den Attentäter von Christchurch nach, der seinerseits als Blaupause für die Anbindung von rechtsradikalem Terror an Plattformen, Kulturtechniken und Sprachmuster der Gaming- und Netzkultur gelten kann.“
Spiele machen nicht von sich aus dumm, gewalttätig oder rechts, schreibt der Spielejournalist Rainer Sigl in einem Beitrag auf der Website des österreichischen Radio FM4. Aber: „Nicht jede Kritik an Spielen – und vor allem an Teilen derer, die sie konsumieren – ist prinzipiell ohne Substanz. Wenn sich rechtsextreme Terroristen augenzwinkernd und ausdrücklich an ein Games-affines Publikum wenden, ist das kein unglücklicher Zufall“.
Auch in der psychologischen Forschung gibt es zunehmend Konsens darüber, dass es keine einfachen Zusammenhänge zwischen dem Konsum gewalthaltiger Computerspiele und tatsächlichen Gewalttaten gibt. „Dennoch sehen wir zunehmend häufiger Gewalttäter, die sich öffentlich auf Gaming-Kultur berufen, in rechten Kreisen innerhalb der Subkultur unterwegs sind und rechte Parolen nutzen“, berichtet Michelle Janßen. Sie glaubt, dass es besonders in der Gaming-Kultur einen Nährboden für eine rechte Radikalisierung gibt. Eine generelle Antihaltung gegenüber „politischer Korrektheit“ und menschenverachtender Sprachgebrauch in Communitys, etwa von Gaming-Youtubern und auf der Spieleplattform Steam, könnten dazu beitragen, rechte Ideologien zu normalisieren. PewDiePie, einer der populärsten Gaming-Youtuber weltweit, fiel bereits mehrfach mit antisemitischen „Witzen“ auf. „Ist diese Art von Umgang normal, so liegt die Radikalisierung in Richtung rechts nicht weit“, so Janßen.
Huberts macht ähnliche Beobachtungen: „Die antifeministischen, antisemitischen und verschwörungsideologischen Überzeugungen des Täters von Halle sowie rechtsradikale Codes werden auf Steam und anderen Plattformen häufig geduldet, sind dort relativ leicht zu finden und werden erst nach erheblichem öffentlichem Druck entfernt oder versteckt.“ Sogar ohne aktive Rekrutierung würden Gaming-Plattformen diverse rechte Identifikationsangebote machen, gerade für junge Männer.
Die Strukturen hinter den rechten Subkulturen
Janßen sieht vor allem in strukturellen Problemen ein Einfallstor für rechte Ideologien. „Spielende Frauen und Minderheiten gab es schon immer, doch sie werden häufig ausgeschlossen oder beleidigt. Die Kerncommunity bestand traditionell überwiegend aus weißen Cis-Männern.“ Insbesondere ein vorherrschender Antifeminismus und die Weigerung zur Politisierung seien eine strukturelle Grundlage für die Begünstigung von Radikalisierung, glaubt Janßen. „Die Vorbilder junger Menschen, speziell Männern, vermitteln ihren Fans, dass linke Einstellungen, insbesondere von Frauen und Nichtbinären, zu radikal und lächerlich sind.“ Zugleich würden Ausschreitungen und Fehlverhalten nur selten sanktioniert. Einen entscheidenden Grund dafür sieht Huberts wiederum in einem erheblichen Mangel von Moderation auf Plattformen wie Steam. „Diese schwachen Strukturen begünstigen eine sprachliche Verrohung und damit das Potential für Radikalisierung.“ Auf vielen Plattformen gehöre menschenfeindliche Rhetorik zum Alltag, werde aber als Satire oder Spaß verharmlost und dadurch langfristig normalisiert. Dazu erklärt Huberts: „Rechtsextreme Ideologie und menschenfeindliche Einstellungen fallen unter diesen Bedingungen kaum negativ auf und Rechtsextreme können sich so frei und oft unerkannt auf den Plattformen bewegen.“
Ein weiteres Erklärungsmodell liefert der Rhetorikforscher Christopher A. Paul. Er beobachtet, dass Gaming-Communitys besonders dann toxisch kommunizieren, wenn die ihnen zugrundeliegenden Games auf meritokratischer Ideologie aufbauen. Meritokratie bezeichnet eine Herrschaftsordnung, bei der die Herrschenden aufgrund ihrer „Leistungen“ ausgewählt werden. Zugleich kommt jedem Mitglied der Gesellschaft jene Position zu, die es vermeintlich verdiene. „Hassbewegungen wie Gamer Gate haben begünstigt, dass sie – meist Männer – sich durch ihre vermeintlich objektiv in Games erworbenen Leistungen berechtigt fühlen, sich über die vermeintlich leistungsarmen Anderen – meist Frauen und andere marginalisierte Gruppen – hinwegzusetzen“, erklärt Huberts zur Theorie von Paul. Sofern sich Pauls Beobachtungen weiter bestätigen lassen, könnten sie auch eine Rolle bei der Frage nach rechter Radikalisierung spielen. Für ein besseres Verständnis der zugrundeliegenden Strukturen und Mechanismen wird es unerlässlich sein, diese Fragen wissenschaftlich verstärkt in den Fokus zu nehmen.
Verantwortung übernehmen
„In ihrer Gesamtheit hat auch die Gaming-Community, so heterogen sie ist, eine Verantwortung für das gesellschaftliche Miteinander, wie sie andere Gemeinschaften auch haben“, schreibt Markus Böhm bei Spiegel Online. Auch der deutsche Spielentwickler Jörg Friedrich (Through the Darkest of Times) teilte im Interview bei der taz mit, dass er mehr Verantwortung bei der Branche sehe. „Man muss sich darüber unterhalten, warum gerade die Spiele, die wir machen, so viele aggressive junge Männer anziehen, was das mit den gewählten Themen zu tun hat, aber auch, wie diese Themen angegangen werden. Wir müssen uns klarmachen, dass wir eine Verantwortung haben“, so Friedrich. Er wünsche sich eine klare Positionierung der Games-Industrie in Deutschland: „Ein Minimalkonsens von ‚Wir verurteilen Rassismus und Antisemitismus‘ – das muss doch drin sein. Fußballvereine bekommen es doch auch hin.“
Michelle Janßen sieht die Verantwortung insbesondere bei den Vorbildfiguren der Community. „Menschen, die ein großes Following im Bereich Gaming haben, sollten sich beispielsweise dezidiert mit Kritik befassen, die eigene Community sensibilisieren und nicht nur deutlich machen, dass sie gegen Nazis sind, sondern auch dabei helfen, dass abwertende Sprache, Sexismus und Rassismus in der Gaming-Community nicht mehr normalisiert werden.“
Letztlich könne jeder dazu beitragen, glaubt Janßen: „Wir haben alle die Möglichkeit, im Gaming-Bereich die antifaschistischen Strukturen aufzubauen, die andere Subkulturen bereits errichtet haben.“
Autor: Dr. Benjamin Strobel