Klänge in Games begleiten die Spielhandlungen, geben Feedback, sorgen für Spannung, wecken Emotion und gehören schlichtweg dazu. Allerdings werden sie von Fachmagazinen meist stiefmütterlich behandelt. Zu Unrecht, wie der Autor dieses Beitrags nach seinem Besuch auf der Ludo 2018 feststellt.
Dieser Beitrag ist Teil des Dossiers Musik & Sound. Eine Übersicht über alle Beiträge des Dossiers gibt es hier | Titelbild-Quelle: Hello Games
Persönliche Vorbemerkung
Mit digitalen Spielen beschäftige ich mich schon recht lange, aber die Ludo 2018 war meine erste Ludomusicology-Tagung. Mein erster Gedanke: hochinteressant. Aber ist das nicht etwas speziell? Als Spiele-Rezensent– das muss ich an dieser Stelle eingestehen – ist mir die Spielmusik oft nur einen Nebensatz wert. Da ist die Rede von „unterstützt die Atmosphäre“ oder „toller Soundtrack“ – mehr nicht.
Dabei haben Spieleklänge für mich durchaus eine höhere Bedeutung als mir zunächst bewusst war. Allein der Gedanke an die Ohrwürmer aus Monkey Island (1990) lässt spontane Karibikstimmung aufkommen. Bei genauerer Betrachtung meiner eigenen Medienbiografie definierte der Sound sogar „Klassenunterschiede“ zwischen PC-Gamern: Während ich piepsige Klänge ertragen musste und zum Mitlesen verdammt war, schallten bei meinem Nachbarn fette Beats und vertonte Dialoge aus der teuren Soundblaster-Karte. Und als eines Tages meine Mutter spontan Interesse an Spielen zeigte und – oh Wunder – gemeinsam mit mir etwas spielen wollte, da suchte ich LOOM (1990) aus. Natürlich aufgrund des niedrigen Gewaltgehaltes, aber vor allem aufgrund des innovativen Gameplays, bei dem man Rätsel durch das Spielen von Melodien löste.
Gewusst? Pong hatte noch keinen eigenen Soundchip. Die Geräusche basierten auf Spannungsspitzen der Schaltkreise, die durch Verstärkung hörbar gemacht wurden. Mehr dazu im Beitrag Die frühe Geschichte der Computerspielmusik.
Heute gehören Klänge aus Anfangszeiten der Videospiele zu unserer Alltagskultur und werden selbst von Szenefremden sofort als solche erkannt. Man denke nur an diverse Chiptune-Samples in elektronischer Musik. Mittlerweile füllen orchestrale Aufführungen von Videospielmusik Konzerthallen rund um den Globus. Und das Budget für Klang und Dialogvertonungen in Games steht dem Medium „Film“ in nichts nach. Grund genug, die Welt der Ludomusicology näher zu erkunden.
Ludo 2018: Auf zu neuen Ufern
In Wagners Geburts- und Bachs Wirkungsstadt Leipzig eröffneten sich mir die Pforten zu einer gleichermaßen fremden wie allzu vertrauten Welt: Vom 13. – 15. April 2018 spielte auf der mittlerweile 7. Internationalen Konferenz Ludo 2018 die Musik für die Szene der Ludomusicology. Organisiert wurde die Tagung von der Ludomusicology Research Group, darunter vor allem Dr. Melanie Fritsch, Dr. Michiel Kamp, Dr. Tim Summers und Dr. Mark Sweeney. Gefördert wurde diese Veranstaltung von der Stiftung Digitale Spielekultur und dem EA Blog Digitale Spielkultur.
Das Programm der Ludo 2018 findet sich hier.
Hier versammelten sich Musik-, Kultur-, Theater- und Medienwissenschaft mitsamt diversen Unterbereichen wie Performanceforschung, Game- und Sound-Studies. Auch praktische Disziplinen wie Sound Design und Komposition kommen unter diesem Dach zusammen. Zu Wort kamen Speaker*innen aus allen Ecken der Welt, teils zugeschaltet via Skype. Leider fand ich hier niemand Gleichgesinntes aus meiner Disziplin, der Pädagogik. Beim Stöbern in Archiven erfuhr ich jedoch, dass die Einsatzmöglichkeiten von Spielemusik für Lehr- und Lernkontexte durchaus eine Rolle in der Ludomusicology spielen.
Das dreitägige Programm bot ein reichhaltiges Angebot unterschiedlicher Themen. Von den eindrücklichsten möchte hier berichten: spezifische Kompositionstechniken in Games, Aspekte der (individuellen und kulturellen) Identität sowie die audiogestützte Immersion in VR-Umgebungen.
Mehr zur Erforschung von Computerspielmusik findet sich in der Einführung die Ludomusicology von Dr. Melanie Fritsch.
Besonderheiten der Musik in digitalen Spielen
Filmsound und Gamesound – das ist doch insgesamt ganz ähnlich. So jedenfalls mein Laienempfinden vor der Konferenz. Hier erfuhr ich allerdings von unterschiedlichen Kompositionstechniken und lernte direkt noch die passenden Fachtermini kennen.
Der NieR: Automata Soundtrack
So definiert die adaptive Musik mit dem gängigen Layering-Verfahren zentrale kompositorische Unterschiede zur Filmmusik. Hierbei werden Tonspuren einzeln aufgezeichnet und können, abhängig vom Spielfortschritt, Ort und Handlung in Schichten ein- oder ausgeblendet werden. Das konnte Jennifer Smith anhand des Soundtracks von NieR: Automata (2017) anschaulich verdeutlichen: Hier verändert sich das Leitmotiv gleichsam mit der Position in Spielgebieten wie auch mit dem narrativem Fortschritt. Zwar bleibt das Leitmotiv erkennbar, es bietet allerdings verschiedene dynamische Variationen – bis hin zu einem kunstvollen Gesang in einer fiktiven Sprache, die das Thema Mensch und Maschine unterstreicht.
Als besonders spannende Produktionsmethode entpuppte sich die prozedurale und generative Musik, die im Grunde genommen gar nicht erst komponiert wird, sondern mittels Software-Tools und dem Einsatz komplexer Algorithmen in Echtzeit so berechnet wird, dass die musikalische Kulisse von den Spieler*innen durch ihre Handlungen mitgeformt bzw. erst produziert wird. Dies ist keineswegs Zukunftsmusik, sondern wird in einigen digitalen Spielen bereits verwendet – ein prominentes Beispiel dafür ist No Man’s Sky (2016). Es ist erstaunlich, wie diese Methode die Musik vom Komponisten trennt. Ein bisschen skeptisch bin ich aber doch: Ist es nicht gerade das intuitive, menschliche Timing, das die Musik herausragender Künstler so emotional wirken lässt? Es bleibt sicher spannend, was der Spielesound der Zukunft zu bieten haben wird.
Sound ist nicht gleich Sound
Nicht nur namensgebende Spielmusik war Thema der Ludo 2018. Die Ludomusicology ist wesentlich breiter aufgestellt und untersucht alle Arten von Klängen. Kristine Jørgensen von der Universität in Bergen und Autorin des Buches Gameworld Interfaces[1] unterschied in ihrer Keynote grundlegend zwischen „Ecological Sounds“, die natürlichen Klängen in der realen Welt entsprechen, und „Empathic Sounds“, die wiederum ein Ereignis in der Spielwelt erweitern oder betonen und so zusätzliche Informationen bieten. Für sie ist der Gamesound Teil des Interfaces, da Spielende damit interagieren können.
Doch was ist mit den oft unliebsamen Geräuschen, die während des Spielprozesses entstehen? Das Klicken alter Joysticks, das Klacken von Microswitches oder das Rattern eines Datenträgers habe ich bislang eher als störend wahrgenommen. Laut Prof. Dr. James Newman gehöre dies allerdings ebenfalls zur digitalen Spielkultur. Somit bedürfen auch die Klänge von älteren Spielgeräten einer sorgfältigen Konservierung, um sie der Nachwelt zugänglich zu machen. Sie sollen künftig durch die National Videogame Foundation in Kooperation mit der British Library in einem neu entstehenden „Game Sound Archive“ gesammelt werden. Als ebenfalls zentral schilderte er die Reaktionen von Spieler*innen während des Gameplays, darunter Rufen, Fluchen und Schreien. Ich wollte mich ihm schon als Schreidouble für ein paar Aufnahmen anbieten und bei alten Sportspielen ein paar Joysticks malträtieren. Mit einem Grinsen im Gesicht schwelgte ich den Rest des Vortrages in meinen Erinnerungen an C64-Gamingmomente im Freundeskreis.
Identität durch Sound und Musik
Gaming nahm in Phasen meiner Kindheit einen hohen Stellenwert an. Ich fühlte mich einer Szene zugehörig, teilte eine Kultur mit Gleichgesinnten. Das kommt auch heute noch zum Ausdruck, wenn eine Nachricht auf meinem Smartphone erscheint und gleichzeitig eine Zelda-Melodie ertönt. Hinzu kommen diverse Gehversuche in der Produktion von elektronischer Musik, bei welcher der Emulator eines SID-Soundchips des guten, alten Brotkastens (C64) natürlich von zentraler Bedeutung war. Es klang so herrlich nostalgisch und durch den Einsatz von MIDI-Noten war es recht einfach, andere Stilrichtungen wie Rock, Reggae oder Jazz zu remixen. Aufgrund dieser Erfahrungen holte mich der Input von George Reid über Fan-Identitäten und Chiptunes sofort ab. Noch dazu wurde eine 8-Bit-Version von David Bowies Starman eingespielt. Ich bin ein ganz großer Fan von Bowie und eines seiner unterschiedlichen Lieder passte irgendwie immer zu meiner jeweiligen Gemütslage.
Umso plausibler wurde mir die nun folgende Theorie um den von Rosi Braidotti (2011) geprägten Begriff der „nomadic subjectivity“ (nomadische Subjektivität).[2] Vereinfacht gesprochen werden durch Produktionen mit Chiptune- und Nicht-Chiptune-Elementen musikalische “Begegnungen” ermöglicht, die ein Erleben von Nostalgie und Fan-Identität erzeugen sollen. Chiptune-Komponist*innen können diese Begegnungen anpassen und beeinflussen. Was kompliziert klingt, kann man im Selbstversuch erfahren, indem man auf YouTube nach dem Namen des Lieblingsliedes in Verbindung mit dem Begriff „8bit“ sucht. Wer den Sound von den Beatles, den Stones oder Lou Reed im Retro-Gewand hört, bekommt ein Gefühl von Nostalgie oder Heimweh. Und man fühlt sich vielleicht etwas alt und realisiert, wie lange die Jugend bereits zurückliegt. So jedenfalls erging es mir.
Glokalisierung
Musik ist allerdings nicht nur individuell bedeutsam, sie entsteht auch immer vor einem kulturellen Hintergrund. Keynote-Speaker Michael Austin von der Howard University stellte sich dem hoch emotional und kontrovers geführten Diskurs der kulturellen Aneignung (Cultural Appropriation) und bezog ihn auf die Klangwelten in Games und deren Reinterpretationen, die man häufig auf YouTube findet.
Wie auch bei anderen Kulturgütern werden ludomusikalische Themen absorbiert und dabei auch Stereotype reproduziert. Wie sensibel sollten Komponisten mit der Thematik umgehen? Und inwieweit dürfen Fans Werke neu interpretieren? Aufgrund von Globalisierungsprozessen und in der westlichen Kultur vorhandenen, riesigen Distributionsnetzwerken bestehe laut Austin durchaus die Gefahr eines kulturellen Imperialismus. Doch bei der globalen Verbreitung von Kulturgütern wie der Videospielmusik über Games selbst und Kanäle wie YouTube – was bedeutet da noch der Begriff „lokal“? Ist hier nicht der Begriff „Glokalisierung“ viel angebrachter, der beschreibt, dass kulturelle Erzeugnisse gleichsam am Schaffensort lokal-regionale wie auch global-überregionale Bedeutung haben? Besonders eindrucksvoll waren die zahlreichen Beispiele, die Austin im Gepäck hatte und die Formen der kulturellen Aneignung und der Stereotypisierung verdeutlichten.
Super Mario Bros. – Ein Beispiel für kulturelle Aneignung?
VR und Klang
Ein aktuelles Thema der Gaming-Kultur durfte auch auf dieser Konferenz nicht fehlen: die VR-Erfahrung und ihre immersiven Möglichkeiten. Nach dem Motto „Mittendrin, statt nur dabei“ verändert sich in virtuellen Umgebungen nicht nur der Blickwinkel bei Kopfbewegungen, sondern auch das akustische Feedback. Hierdurch erschließen sich spannende, immersive Möglichkeiten. Wie eng die visuelle Erfahrung mit dem Sound verbunden ist, merkte ich erstmals, als ich einmal den Kopfhörer falsch herum aufhatte und sich Klang und Geschehen auf verwirrende Weise unterschieden.
Das Projekt von Kenny McAlpine und James Cook, bei dem Sound Design und Geschichtswissenschaft eine spannende Symbiose eingehen, hat mich nachhaltig beeindruckt und soll an dieser Stelle exponiert hervorgehoben werden: Mit der St. Cecilia’s Hall in Edinburgh sowie einer weiteren schottischen Kapelle wurden historische Konzerträume durch Techniken wie 3D-und akustische Modellierung sowie immersiven Interfaces so authentisch rekonstruiert, dass einem heutigen Auditorium das nahezu korrekte Klangbild einer solchen Aufführung mit antiken Instrumenten überliefert werden kann. Zudem können Interessierte selbst die historischen Exponate zum Erklingen bringen, ohne diese in Realität potenziell zu beschädigen. Die Videoaufzeichnung eines Vortrages von Kenny McAlpine und James Cook mit gleicher Thematik gibt es hier.
Ich wünsche mir für die Zukunft eine ähnlich authentische Rekonstruktion bei der Implementierung von Klang in historischen Spielumgebungen. Ob mein ungeschultes Ohr allerdings in der Lage ist, die feinen Nuancen auch tatsächlich wahrzunehmen, bleibt dahingestellt.
Resümee
Anders als eingangs vermutet, ist die Ludomusicology ein breit aufgestelltes, facettenreiches Forschungsfeld, dessen Diskurse, Theorien und Perspektiven mich immer wieder überrascht haben. Die Spätfolgen meines Konferenzbesuches sind omnipräsent: Ich höre nun mit anderen Ohren zu, wenn ich spiele. Manchmal ertappe ich mich sogar dabei, wie ich Menüsounds oder dem Klackern der Controller lausche. Und die Verwendung von adaptiver Musik nehme ich nun auch aktiv wahr. Ich denke, dass sich dieses neu gewonnene Wissen auch in meinen Games-Rezensionen niederschlägt. Es verbleibt der Eindruck einer lebendigen wissenschaftlichen Szene, gewinnbringender Begegnungen, anregender Gespräche und Fachsimpeleien über Lieblingsspiele. Ich bin im nächsten Jahr wieder mit von der Partie! Und wenn ich mich von der englischen Sprache nicht allzu sehr abschrecken lasse – vielleicht sogar mit einem eigenen Input zum Thema „Pädagogik und Ludomusicology“.
Autor: Daniel Heinz
Literatur
[1] Jørgensen, K. (2013). Gameworld Interfaces. MIT Press.
[2] Braidotti, R. (2011). Nomadic theory: the portable Rosi Braidotti. Columbia University Press.