„Dafür, dass es ein Spiel über Philosophie sein soll, ist Everything erstaunlich wenig kompliziert.“ (Wired.de)
Ein Fest für Feuilletonisten: In dieser prozedural generierten und von dadaistischem Humor und Skurrilität geprägten Bewusstseins-Simulation können Spielende alles sein. Zumindest jedes Ding, das sich in diesem virtuellen Universum so tummelt. Dahinter steckt der für skurrile und philosophische interaktive Gedankenexperimente bekannte Künstler David O’Reilly. In 2014 demonstrierte er sein Können bereits mit dem „Spiel“ Mountain, bei dem wir die Existenz eines Berges nachfühlen können.
Wie wird gespielt?
Es beginnt alles mit einem Tier, in unserem Fall ein Elch. Dieses bewegen wir, ungelenk wie die LEGO- oder Playmobil-Figur aus dem heimischen Kinderzimmer, mit einer Purzelbaum-Animation durch die Landschaft. Manche Dinge sind mit Wölkchen gekennzeichnet und auf Knopfdruck teilen sie uns ihre Gedanken mit. Das sind mal Belanglosigkeiten, mal kryptische Aussagen oder abstrakte philosophische Fragestellungen. Erscheint ein Everything-Symbol in der Landschaft, bekommen wir kleine Aufgabenstellungen, die als Tutorial dienen. So lernen wir, dass mit Artgleichen getanzt und Rudel gebildet werden können. Und die Transformation: Ein Druck auf die Schultertaste des Controllers, etwas markieren – und voilá – schon werden wir zu dem markierten Etwas.
So verwandeln wir uns nach und nach zu hierarchisch größeren Dingen. Vom Stein zu Kontinenten, über Planeten bis hin zu Galaxien, die dann im Weltall miteinander „tanzen“. Gleiches gilt auch für die umgekehrte Richtung. Denn neben dem Makro- gelangen wir durch stufenweise Transformation auch in den Mikrokosmos und schweben als Kleinstpartikel umher. Ein Blick ins Menü verrät, dass es tausende Dinge zu entdecken und nachzuempfinden gibt.
So bewegen wir uns, mal als eine Pferdeherde, mal als Mikrobe, dann als mittelalterliches Haus durch die Steppe, den Wald oder über Eislandschaften, hören uns die Gedanken von Blumenpollen und Steinen an, stets untermalt von meditativer, beinahe Zen-artiger Musik. Im Sandbox-Modus lässt sich die Welt nach eigenem Gutdünken verändern. Da werden die Planeten zu Zebras im Weltall, während die Galaxien Bäume sind.
„Das menschliche Wesen ist sich einer Hierarchie von Wesen über ihm und unter ihm bewusst. Das bedeutet, wer auch immer du bist, wo auch immer du bist und was auch immer du bist, du bist immer in der Mitte. Das ist das Spiel.“ (Interview mit David David O’Reilly)
Futter fürs Gehirn
Sporadisch entdecken wir originale Sprachaufnahmen aus Seminaren und Vorlesungen des britischen Philosophen Alan Watts (1915-1973). Diese Gedankengänge sind das Fundament des Spielerlebnisses und besagen (verkürzt dargestellt), dass alles mit allem zusammenhängt. Und dass selbst jede Handlung im Kleinen essentiell für das große Ganze ist. Die Definition eines Dings hängt laut Watts immer von dem Standpunkt des Betrachtenden ab.
In Zeiten, in denen Menschen aufgrund von Individualisierungstendenzen sich zunehmend voneinander zu separieren scheinen und Länder sich dem Protektionismus verschreiben, wirkt das Game wie eine wohltuende Frischzellenkur für das Bewusstsein. Es lehrt das Individuum, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen und als Teil eines größeren Plans wahrzunehmen.
Das Spiel und die Anerkennung
Bevor die Ludologen nun wütend die Worte „Das ist alles, nur kein Spiel“ herausposaunen, mit Schnappatmung in den verbalen Boxring steigen und sich trefflich mit den Narratologen streiten – Everything kann alles sein: Ein Game, ein Kunstwerk, ein Erfahrungsraum, eine philosophische Abhandlung, ja sogar ein Film. Denn im Autoplay-Modus spielt sich das Spiel ganz von selbst und könnte sogar mit Popcorn und Cola im Kino genossen werden.
Und als Gameplay-Film gewann Everything den Jurypreis beim Wiener Kurzfilmfestival VIS Vienna Shorts und landete damit auf der Longlist der möglichen Oscar-Nominierten. Hierdurch haben sich digitale Spiele wieder ein Stück mehr Anerkennung in der öffentlichen Wahrnehmung eingeheimst.
Fazit
Philosophie muss nicht sperrig, kompliziert und in langen Schachtelsätzen präsentiert werden, die von einem Geisteswissenschaftler im stillen Kämmerlein verfasst wird. Die Interaktivität des Mediums kann sie erfahrbar machen und einen erweiterten Personenkreis erreichen. Hier können wir uns mit selbst gewähltem Tempo bewegen, Entscheidungen treffen, den Mikro- und den Makrokosmos erkunden, über Entdeckungen schmunzeln, den Abhandlungen von Watts lauschen und versuchen, diese mit dem interaktiven Erlebnis abzugleichen. Oder einfach zuschauen, wie sich alles von selbst weiterentwickelt. Egal was wir tun, alles ist ein Experiment, bei dem es keine Fehler, kein Richtig oder Falsch und auch kein Ende im herkömmlichen Sinne gibt. Zusammenfassend kann Everything als eine Übung in Sachen Wahrnehmung verstanden werden, die sich uns durch das Einnehmen von unterschiedlichen Perspektiven erschließt.
Weitere Informationen zu Everything beim Spieleratgeber-NRW.
Autor: Daniel Heinz
Bild: David O’Reilly / Everything