Der Mantel des Horrors ermöglicht es uns oft, über Themen zu sprechen, die sonst so nicht angesprochen werden dürften. Wahnwitzige Monster warnen uns vor den Gefahren der Genmanipulation, Maschinen rebellieren und verarbeiten die voranschreitende Robotisierung unserer Gesellschaft, und überall bedroht uns das Fremde. Horror kratzt an Tabus, er lotet die Grenzen unserer Gesellschaft aus. Es geht ihm um Identitäten und ihre Brüchigkeit, um Gemeinschaft, Ethik und Moral. Doch muss, was für Horrorfilme und -romane gilt, auch für Horrorspiele gelten? Ausgehend von dieser Frage leite ich an der Hochschule der Künste Bern (HKB) ein Forschungsprojekt zur Rhetorik politischer Mythen in digitalen Horrorspielen (https://hgp.hypotheses.org/) und analysiere gemeinsam mit meinem Kollegen Arno Görgen die bewusste und unbewusste ideologische Rhetorik dieser Spiele.
Dieser Beitrag ist Teil des Dossiers Politik & Zeitgeschehen. Eine Übersicht über alle Beiträge des Dossiers gibt es hier | Titelbild-Quelle: Scott Homer.
Das Politische im Spiel
Verkürzt gesagt treffen wir immer dann auf Politik, wenn es um Macht geht und um verbindliches gemeinsames Handeln. Vor kurzem zeigte das Rainer Sigl überzeugend in seinem Essay. Das heißt, dass schon die Kommunikation gemeinsamer Werte und Tabus grundsätzlich politisch ist: Die Frage, was wir als „gut“ verstehen und was als „böse“ ist politisch.
Das Horrorgenre bietet sich aus zwei Gründen für eine Untersuchung politischer Inhalte in digitalen Spielen an: Zum einen haftet an ihm nach wie vor ein wenig der Vorwurf des Schunds. Das mag im ersten Augenblick als ungewöhnliche Begründung erscheinen, aber tatsächlich genießt das Genre dadurch schon immer eine gewisse Narrenfreiheit. Hier kann – in Horrorszenarien übersetzt – plötzlich über Themen gesprochen werden, die in keinem anderen Genre ohne Kontroverse durchgegangen wären. George A. Romero konnte so 1968 mit „Night of the Living Dead“ im Gewand eines Zombie-B-Movies den anhaltenden latenten Rassismus in den US-amerikanischen Südstaaten kritisieren. Zehn Jahre später nahm er sich in „Dawn of the Dead“ die Konsumgesellschaft vor, ohne Gefahr zu laufen, gleich als Kommunist gebrandmarkt zu werden. Aber auch Ridley Scott hat sich zu einer politischen Seite seines „Alien“-Films bekannt: „I’m now thinking on the level of the Big Brother idea of a lifeless mega structure and its attitude toward human employees, who are considered expendable“ (Pery, 2005).[1] Das „trashige“ Horrorgenre bietet sich aber auch deshalb für eine Suche nach politischen Aussagen an, weil ihm schon recht früh auch von der Forschung eine politische Funktion zugestanden wurde. Das heißt, wir können hier auf bereits etablierte Forschung zu politischen Diskursen in Horrorfilmen und -büchern zurückgreifen.
Rapture und der entfesselte Atlas
Bleibt die Frage, ob wir diese Überlegungen auch auf Computerspiele anwenden können. Beginnen wir dazu mit einem möglichst eindeutigen Beispiel: Bioshock (2007). Lead Designer Ken Levine hat sich von Anfang an offen zu einer politischen Botschaft bekannt und erklärt, dass er sich bewusst an der Ayn-Rands-Philosophie des „rationalen Egoismus“ abarbeiten wollte. Rand vertrat in ihren philosophischen Romanen (insbesondere in „Atlas wirft die Welt ab“) einen zur Spitze getriebenen Liberalismus (auch Libertarismus oder Objektivismus). Die Rolle des Staates sollte ihr zufolge auf ein Minimum reduziert werden, da davon ausgegangen werden könne, dass jedes Individuum zwar egoistisch, aber auch ethisch vernünftig handle und so die ganze Gesellschaft davon profitiere. Der Staat dürfe somit aber auch keine Armen und Schwachen mehr unterstützen. Wenig Wunder, dass sie eine der meistgenannten Lieblingsphilosophinnen vieler Tea-Party-Politiker*innen ist.
Ken Levine fand diesen überhöhten Laissez-Faire-Kapitalismus hingegen wenig überzeugend. Entsprechend taumeln wir in der Unterwasserstadt Rapture durch die Ruinen eines gescheiterten neoliberalen Wunschtraums. Die auf entfesselten Konsum aufgebaute Stadt ist zum Alptraum geworden, zur Hälfte zerstört, nur noch von wahnsinnigen Individualist*innen bevölkert, die uns allesamt nach dem Leben trachten.
Politisch ist hier aber nicht allein die Story, auch die audiovisuelle Ästhetik und das Gamedesign arbeiten Hand in Hand an der Dekonstruktion Ayn Rands. Die Unterwasserpanoramen zerfallender Konsumkathedralen sind ebenso faszinierend wie beängstigend. Die „Kunstwerke“ des nun nicht länger durch ethische Bedenken begrenzten Künstlers Sander Cohen sind genauso entsetzlich wie jene des plastischen Chirurgen. J.S. Steinman. Diese (einst menschlichen) Monster, die wir zu besiegen haben, verkörpern einen entgrenzten Egoismus, die wir im Spiel besiegen müssen. Es ist also ein Spiel, das eindeutig um eine politische Aussage herum gebaut wurde. Von der narzisstischen liberalen Utopie ist in der Spielwelt nur Zerstörung und Leid übriggeblieben, durch die wir uns mithilfe eines Schraubenschlüssels und einer fortschreitenden Selbstoptimierung durch sogenannte ADAM-Stammzellen unsere Bahn schlagen.
Xenomorphs, Zombies und andere Raubtier(-Kapitalist)en
Was ist aber mit all jenen Spielen, die keine politische Aussage für sich in Anspruch nehmen, die uns einfach nur unterhalten wollen? Auch diese Spiele sind nicht grundsätzlich unpolitisch. Denn auch Spiele, die nicht mit einem politischen Hintergedanken entwickelt wurden reproduzieren verbreitete Weltbilder und bestätigen so unsere gemeinsamen Werte. Nehmen wir zum Beispiel das Survival-Horrorspiel Alien: Isolation (2014). Gewiss, Ridley Scott hat sich vor vierzig Jahren zum Politischen bekannt, aber heißt das automatisch, dass auch die jüngste Inszenierung des Franchise-gewordenen Xenomorph politisch sein muss? Die Frage ist doch, ob das Spiel nur die ideologischen Bausteine seines Vorbildes übernimmt oder ob es auf diesen weiter aufbaut. Schauen wir uns das Spiel dazu etwas genauer an: Ebenso wie im Film ist auch hier – moralisch betrachtet – nicht das Monster selbst böse, sondern die Evil Corporation, die es fangen möchte und dabei vor menschlichen Verlusten nicht zurückscheut.
Setting des Spiels ist eine Raumstation, die ästhetisch klar an einen Flughafen erinnert, vor allem aber den Aspekt des Einkaufszentrums betont. Ein großer Teil des Spiels findet zudem in einer industriellen Fertigungsanlage und den Büroräumen eines Unternehmens statt: „Seegson“ – das übrigens ebenso unethisch und moralisch verkommen erscheint wie „Weyland Yutani“. Auch hier spürt man als Spieler*in die Auswirkungen der grenzenlosen Profitgier am virtuellen Körper, wenn die billig zusammengesetzten Arbeiterdroiden – Working Joes genannt – Amok laufen. Erschwerend kommt hinzu, dass „Weyland Yutani“ den Sheriff der Raumstation korrumpiert hat, von welchem wir uns anfangs noch Schutz und Hilfe erwartet haben. Ob bewusst gewählt oder nicht, das Spiel bedient hier den verbreiteten politischen Topos des unethischen Riesenunternehmens, den wir problemlos auch auf das Tagesgeschehen übertragen können. Dabei ist es müßig zu fragen ob das nun bewusste Absicht der Entwickler*innen war, das Ergebnis ist eine eindeutige politische Aussage, eine Warnung vor der Macht von Riesenunternehmen.
Von Zombies und verrückten Genies
Denken wir auch an die unzähligen Ruinen unserer Großstädte und unserer Gesellschaft in den nach wie vor populären Zombiesettings. Hier wird uns in einer pervertierten Lesung von Thomas Hobbes – „Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen“ – suggeriert, dass nur das Individuum – also wir als Spieler*innen – allein in der Lage sind, wirklich ethisch zu handeln, egal ob nun in The Last of Us (2012) oder Telltales Walking Dead (2013-2017). Nicht der Staat ist es, der uns beschützt, nicht das Militär, nicht die Polizei. Wir allein sind für unseren Schutz zuständig. Das könnte man eventuell noch als Notwendigkeit der Spielmechanik erklären, immerhin gilt es, die Agency des Spielers in den Mittelpunkt zu stellen. Ich wäre aber hier vorsichtig, von „selbstverständlichen Voraussetzungen“ des Spiels zu sprechen – denn diese Spiele versäumen keine Gelegenheit uns zusätzlich dazu immer wieder die Unzuverlässigkeit und moralische Verkommenheit der Anderen in Form faschistischer Militärs oder perverser Anführerfiguren vor Augen zu führen. „Seht her!“ scheinen diese Spiele zu rufen, „Seht, was passiert, wenn die seelenlosen Fremden uns überrennen. Seht, wie jede Form von politischer Zusammenarbeit sofort wieder zur Katastrophe führt!“.
Neben unethischen Geschäftspraktiken und überforderten Regierungen begegnen wir in Horrorspielen außerdem noch einer Bandbreite ideologischer Bausteine. So geht es gleich in zwei Spielen der letzten Jahre um die Frage der gesellschaftlichen Rolle der Mutter, nämlich in Among the Sleep (2014) und in Through the Woods (2016) oder, um unethische wissenschaftliche Experimente wie in Resident Evil (1996) und F.E.A.R. (2005). Wie oft mussten wir aufs Neue lernen, dass man diesen merkwürdigen Wissenschaftler*innen einfach nicht zu viele Freiheiten lassen darf?
Spielend Politik lernen
Tatsächlich lernen wir etwas aus diesen Spielen, und zwar nicht nur, gewisse Level-Bosse zu besiegen oder zusätzliche Munition zu finden. Wir lernen auch, uns allgemein auf kommende Gefahren vorzubereiten. Wir lernen zum Beispiel, das „Böse“ aufzudecken: Neben der Evil Corporation (Weyland Yutani, Umbrella, Aperture Science, Fontaine Futuristics, etc.), erkennen wir auch den stereotypen Mad Scientist auf eine Million Pixel Entfernung (Dr. Harlan Wade in F.E.A.R., Dr. Yi Suchong in Bioshock, William Birkin in Resident Evil 2 [1998/2019]). Wir sind durch unsere bisherigen Spielerfahrungen gut darin geschult, zu erkennen, wie hoch die Chancen westlicher Regierungen stehen, erfolgreich auf eine Zombiebedrohung zu reagieren: sie tendieren gegen null. Kommen Zombies vor, wissen wir, wem wir vertrauen dürfen – eigentlich nur uns selbst, allenfalls noch ein bis zwei Gefährt*innen, die vermutlich aber nicht überleben werden.
Dominante politische Aussagen
Eine ideenhistorische Untersuchung digitaler Horrorspiele ermöglicht es uns, solch vermeintlich natürliche Spielbestandteile als dominante politische Aussagen zu erkennen, zu untersuchen, wie sie rhetorisch argumentieren und vor allem, wie sie sich in vielen Spielen reproduzieren. Spannend wird es nämlich immer dann, wenn eine solche politische Aussage plötzlich vermehrt auftritt und man Bezüge zum Zeitgeschehen herzustellen kann.
Die Evil Corporation warnt recht eindeutig vor der Gefahr multinationaler Großunternehmen, die sich immer weniger durch klassische politische Akteure kontrollieren lassen, was wiederum immer wieder aufs Neue in menschlichen und ökologischen Katastrophen endet. Der Mad Scientist steht für die Folgen einer unkontrollierten Forschung. Das mag in Spielen die groteske Form des Monsters annehmen, aber auch hier lässt sich die Aussage leicht auf unsere Gesellschaftspolitik übertragen: Wie stehen wir zu der Vorstellung unkontrollierter Stammzellenforschung, wie stehen wir zur Vorstellung von Klonen? Ja, selbst die Zombieapokalypse hat ihre realweltlichen Entsprechungen: Den Vorwurf, Regierungen seien hoffnungslos langsam oder korrupt und würden nicht mit der Bedrohung von Außen fertig werden, hören wir beispielsweise immer öfter in Zusammenhang mit Warnungen vor unkontrollierter Einwanderung im Boulevard und vor allem aus rechtspopulistischen Kreisen.
Die mündigen Spieler*innen
Auf einen ersten Blick mag das alles ein wenig alarmistisch klingen. Wir dürfen dabei aber nicht vergessen, dass die Forschung längst zeigen konnte, dass es kaum zu einfachen, einseitigen Medienwirkungen kommt. Zwar findet stets Wissenstransfer statt, aber das heißt nicht, dass sich die politische Einstellung von Spieler*innen dadurch auch verändert. Wir wissen sehr wohl Fiktion von Realität zu unterscheiden. Nur wenige neo-liberale Jungpolitiker*innen werden nach dem Spielen von Bioshock plötzlich ihre politische Überzeugung über Bord geworfen haben. Und nicht alle, die Spaß am Zombietöten finden, wählen automatisch autoritäre Politiker*innen. Eine solche Wirkung ließe sich mit dem herkömmlichen Instrumentarium der Ideengeschichte auch gar nicht nachweisen.
Was wir aber tun können, ist festzuhalten, wann und wo welche politischen Aussagen zuerst auftreten und wann sie beginnen vermehrt aufzutreten. Denn so haben wir es mit „dominanten“ Aussagen oder Denkmustern unserer politischen und gesellschaftlichen Diskurse zu tun. Diese wiederum bilden einen Rahmen des Denkbaren. Sie geben uns zwar nicht konkret vor, was wir zu Denken haben, aber sie zeigen uns wortwörtlich, was „denkbar“ ist. Diese diskursiven Aussagen werden ganz automatisch Bestandteil unserer Spiele, weil wir im Normalfall auch in Spielen die Welt reproduzieren, wie wir sie zu kennen glauben.
Man kann sich diese politischen Aussagen sozusagen als „Werkeinstellung“ vorstellen. Wer nicht – wie zum Beispiel das Entwicklerteam von Bioshock – selbst an Setting und Themes herumschraubt, übernimmt einfach die von unserer Gesellschaft vorgegebenen, dominanten Aussagen – quasi das ideologische Pendant zum Windows-Default-Hintergrund. Das ist an sich weder gut noch schlecht, sondern ein natürlicher Mechanismus jeder Gesellschaft. So funktionieren unsere modernen politischen Systeme. Für Forschungsprojekte wie das unsere ist das ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Hier bietet sich uns ein erster Einblick in populäre politische Diskurse.
Autor: Eugen Pfister
Literatur
[1] Pery, D. (2005). [Interview mit Ridley Scott]. In L. F. Knapp & A.F. Kulas (Hrsg.), Ridley Scott Interviews (S.45f).