Die klassische, aber dennoch außergewöhnliche Heldenreise handelt von der traumatisierten keltischen Kriegerin Senua und ihrer Reise durch die nordische Unterwelt Hel, um die Seele ihrer großen Liebe Dillion zu retten. Dabei muss sie sich nicht nur gegen zahlreiche bedrohliche, manchmal sogar übergroße Feinde im Kampf beweisen und knifflige Rätselpassagen meistern, sondern sich auch ihren inneren Dämonen stellen. Dieses Erlebnis ist auf mehreren Ebenen außergewöhnlich.
Mit dem frühen Mittelalter wird ein medial unterrepräsentiertes Setting bespielt. Senua gehörte zum Stamm der Pikten, was durch die typischen Gesichts- und Körpertätowierung zum Ausdruck kommt. Allerdings wurde sie verstoßen, nachdem sie ihren Geliebten bei einem Wikingerüberfall verlor und im Zuge dessen die Dunkelheit in ihr aufkeimte. Was früher als unheilbringendes Omen galt, würde heute vermutlich als Psychose, hervorgerufen durch ein traumatisches Erlebnis, diagnostiziert werden. Aufgrund dessen lebt sie mit visuellen und auditiven Halluzinationen.
Während Antagonist*innen häufig als wahnsinnig oder psychisch labil dargestellt werden, haben sich bislang nur wenige Games mit der Psychose von Protagonist*innen beschäftigt. Ein Beispiel ist der von H.P. Lovecraft inspirierte Titel Eternal Darkness: Sanity`s Requiem, in dem der fortschreitende Wahnsinn zum zentralen Gameplay-Element gehört.
Während Senua in der Eingangssequenz behutsam auf einem Baumstamm gen Hel rudert, wird der/die Spieler/in damit konfrontiert. Die Nutzung eines Kopfhörers wird dringend empfohlen, denn die per binaurale Tonaufnahme implementierten Stimmen kommen scheinbar aus allen Richtungen. Mal aus der Distanz, mal direkt neben dem Ohr und manchmal fühlt es sich beinahe so an, als entsprängen sie dem eigenen Kopf. Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung sollten das Spiel besser nicht nutzen.
„Eine binaurale Tonaufnahme ist eine Aufnahme von Schallsignalen mit Mikrofonen, die bei der Wiedergabe nur über Kopfhörer einen natürlichen Höreindruck mit genauer Richtungslokalisation erzeugen sollen.“ (Wikipedia)
Die Stimmen flüstern freundliche Hinweise, Warnungen, appellieren an das Gewissen, prognostizieren das unausweichliche Scheitern, üben vernichtende Kritik an Senua – und das oft zeitgleich in unterschiedlicher Intensität und Tonalität. Manchmal weitet sich das Gebrabbel bedrohlich aus, die Stimmen verzerren, die Umgebung wird immer düsterer, um nach ein paar Schritten wieder komplett zu verstummen. Flankiert wird das akustische Erlebnis von visuellen Halluzinationen. Da verändern Bäume ihre Position, im Schatten erscheinen merkwürdige Reflektionen. Stellenweise blickt Senua beinahe flehentlich und voller Furcht in die Kamera und scheint den/die Spieler/in direkt ins Visier zu nehmen. Und auch ansonsten ist die per Motion Capturing aufgenommene, schauspielerische Leistung von Melina Juergens eindringlich. Senua wird hier keinesfalls als bemitleidenswerte, schwache und durch Krankheit beeinträchtigte junge Frau dargestellt. Vielmehr findet eine De-Stigmatisierung statt, indem sie sich den Gefahren stellt. Obwohl sie riesige Gegner in unterschiedlichen Welten bekämpft, muss sie mit ihren inneren Dämonen leben. Und während es in Literatur, Film und digitalem Spiel meist die Männer als Retter in die Unterwelt eilen, wie beispielsweise Orpheus zu Eurydike oder Dante zu seiner Beatrice, so ist es hier eine weibliche Heldin, die abseits klischeehafter Stereotype gestaltet ist.
Das „Making of“ liegt dem Spiel bei und bietet interessante Einblicke in den Entwicklungsprozess sowie die Motive der Entwickler.
Dabei kann Hellblade nicht nur durch erzählerische Stärke sondern auch als Spiel überzeugen. Die Präsentation der unterschiedlichen Abschnitte ist abwechslungsreich stimmungsvoll, die Animationen können sich sehen lassen, die Kämpfe werden wuchtig präsentiert und fordern taktische Manöver. So gilt es leichte und schwere Angriffe zu setzen, auszuweichen oder im richtigen Moment zu kontern. Die Warnung, dass der Spielfortschritt bei zu vielen virtuellen Toden gelöscht wird, setzt Spielende zusätzlich unter Druck und lässt Spannung entstehen. Die Rätseleinlagen erinnern an The Witness. Meist muss die Umgebung nach einem vorgegebenen Symbol abgesucht und die passende Perspektive gewählt werden, um weiterzukommen.
Das Spiel vereint dabei ein ernstes Thema mit den Konventionen eines modernen Games, verzichtet gänzlich auf störenden Ballast wie Inventar, Map, Lebensbalken, Punkte oder Item-Sammelwahn und konzentriert sich auf das Wesentliche: Die Story und vor allem die Hauptfigur.
Fazit
Games eignen sich dazu, Erfahrung einer an Psychosen leidenden Hauptfigur nachvollziehbar zu machen, wie Hellblade eindrucksvoll beweist. Verbleibt man bei Filmen stets in der Rolle des Betrachters und nur im Geiste als Handelnder selbst, können Spielende in Games jemand anderes sein, sich mit dieser Rolle auseinandersetzen und aktiv die Geschehnisse beeinflussen. Die Interaktivität macht′s möglich. Die durch die stimmungsvolle Präsentation und die mysteriöse Story entstehende Immersion lässt Empathie für die Protagonistin entstehen. Dabei wird mit der Thematik der Psychose sensibel und (trotz fiktionalem Aufhänger) authentisch umgegangen, was durch die fachmännische Begleitung von Dr. Paul Watson, Neurowissenschafter an der Universität Cambridge, sichergestellt wurde.
Es bleibt der Wunsch, dass Hellblade als Vorbild dient. Für weitere Auseinandersetzungen mit Tabu-Themen wie Disabilities, für eine Rollenvielfalt abseits gängiger Stereotype – und das in einem modernen, qualitativ hochwertigem AAA-Gewand.
Weitere Informationen zu Hellblade: Senua′s Sacrifice beim Spieleratgeber-NRW.
Autor: Daniel Heinz
Bilder: Hellblade.com / Ninja Theory