Jeder kennt ihn. Seit nunmehr 36 Jahren ist der niedliche Italiener wesentlicher Bestandteil der Gaming-Kultur. Zunächst debütierte er unter dem Pseudonym „Jumpman“ im Arcade-Klassiker „Donkey Kong“ und rettete Pauline vor dem namensgebenden Affen. Seit er unter Klarnamen agiert, ist Prinzessin Peach seine Herz-Dame und der Bösewicht heißt Bowser. Den größten Sprung machte die Marke 1996 in die 3D-Welt und sorgte für ein modernisiertes Spielerlebnis. Der neue Teil folgt dieser Tradition. Damals wie heute gehören die blaue Latzhose und der Schnurrbart genauso zu seinen Markenzeichen wie die rote Schirmmütze mit aufgedrucktem Initial. Und Letztere wird im neuen Teil der Reihe zum Gamechanger.
An Trivialität kaum zu überbieten
Nach dem Bekenntnis des Entwicklers stehe die Serie weniger für innovative Geschichten, sondern für ein motivierendes Gameplay. Das wird bereits in der Eingangssequenz mit der üblichen Entführung von Prinzessin Peach durch Bowser überdeutlich. Dazu kommt noch die zweite Entführung einer weiblichen Figur. Denn in dem Mario-Universum besitzen anscheinend sogar Hüte ein Geschlecht. Und es ist natürlich eine weibliche Krone namens Tiara, welche die Prinzessin bei der Entführung auf ihrem Haupte trägt und gleich mit verschwindet. Ihr Bruder Cappy mimt fortan Marios Mütze und hilft maßgeblich dabei, die drohende Zwangsvermählung zu verhindern.
Immer im Flow
Das Gameplay besteht ebenfalls aus altbekannter Rezeptur. Mit dem hutähnlichen Raumschiff Odyssey werden unterschiedlich gestaltete, weitläufige Planeten angesteuert, um Bowsers Pläne zu durchkreuzen und im Vorbeigehen allerlei Habseligkeiten einzusammeln, Gegner und mächtige Endbosse zu besiegen sowie knifflige Sprung- und Hüpfpassagen und Mini-Games zu meistern.
Die kreative Ausgestaltung der Areale sucht hingegen seinesgleichen. Von der Wüste in die Tiefen des Meeres zum Strand mit einem Zwischenstopp in einer Landschaft voller Schlemmereinen, um anschließend auf Neil Armstrongs Fährte zum Mond aufzubrechen und schließlich die Hochzeit in Bowsers Reich zu sprengen – hier werden optisch wie akustisch viel Abwechslung und frische Ideen geboten. Zudem lockern kleine Geschichten in den Szenerien die belanglose Gesamtstory auf und sorgen für Motivation. Da muss beispielsweise in der Eislandschaft ein Rennen organisiert, in der Stadt New Donk City ein Fest veranstaltet werden. Es ist auch möglich, das Abenteuer zu Zweit anzugehen, indem Mario und Cappy von unterschiedlichen Spieler/innen gesteuert wird. Und Jüngere können einen einfacheren Schwierigkeitsgrad wählen, um Frustration zu verhindern.
Hut ab!
Frischer Wind kommt vor allem mit dem weißen Zylinderwesen Cappy ins Spiel. So kann die Kopfbedeckung ähnlich eines Bumerangs umher geworfen werden, um auf diese Weise Feinde zu besiegen, Hebel umzulegen, Türen zu öffnen oder allerlei Begehrlichkeiten wie Münzen oder Monde einzusammeln. Mit einem gezielten Wurf lassen sich auch Gegner „capen“, um sich ihr Aussehen mitsamt der Fähigkeiten auszuleihen. So fliegt Mario als Kanonengeschoss Kugelwilli durch die Lüfte, findet als Pilzwesen Goomba selbst auf glatten Oberflächen Halt, springt im Froschgewand auf hochgelegene Plattformen und stampft als riesengroßer T-Rex durch die kunterbunte Landschaft und zertrümmert Felsen. Die Steuerung der Mütze durch Bewegungen der Joycon-Controller gestaltet sich dabei so intuitiv, als gehöre sie schon immer zur Spielereihe.
Sammelwahn
Wie gehabt können allerlei Münzen eingesammelt werden, dazu noch eine örtliche Währung, mit denen in Läden neue Outfits oder Verschönerungen für die Odyssey erworben werden können. Was vormals die Sterne waren, sind in diesem Teil die als Treibstoff für die Odyssey dienenden Powermonde. Ab einer gewissen Sammlung lässt sich das nächste Königreich ansteuern. Diese können bei zeitkritischen Hüpfpassagen, an geheimen Ecken, bei Mini-Spielen, durch das Besiegen von Endbossen oder einfach so während der Erkundung am Wegesrand gefunden werden. So geraten Spielende schnell in den Flow. Und wenn eine Herausforderung zu schwer ist, dann zieht man einfach weiter und sucht sich ein neues Betätigungsfeld. Kompletist/innen können insgesamt 999 dieser Exemplare finden und werden mit einer kleinen Sequenz belohnt. Ohnehin nimmt das Abenteuer mit der Rettung der Prinzessin nochmal an Fahrt auf, weckt zahlreiche Erkundungsreize und bietet viele Stunden motivierenden Spaß.
Ein Kulturgut rezitiert sich selbst
Bemerkenswert sind die zahlreichen Zitate aus vergangenen Mario-Spielen. Das beginnt mit den vielen Figuren aus dem bekannten Universum. Dazu gehören die Toads genauso dazu wie der Kult-Dino Yoshi. Auch die Widersacher wie Kettenhunde, Kugelwillis, Goombas & Co. sind wieder mit dabei. Auch die Spielmechanik rezitiert an diversen Stellen die Vergangenheit der Reihe. So lassen sich 8-Bit-Wandgemälde durch eine Röhre betreten und es können kleinere 2D-Passagen mit Nostalgie-Flair gemeistert werden. Und auch das Schloss im Pilz-Königreich aus Mario64 lässt sich bereisen. Gerade die Symbiose aus Altbekanntem mit neuen Akzenten verleiht dem Abenteuer das gewisse Etwas.
Spoiler: Darstellung der Frau
Das zugrundeliegende und (bis auf Super Mario Bros 2) immer wieder reproduzierte Story-Element „Damsel in Distress„ (dt. Fräulein in Nöten) nimmt beispielsweise im ersten Teil der Videoreihe von Anita Sarkeesian „Tropes vs. Women in Video Games„ eine exponierte Stellung ein.
Die Mario-Reihe wird oft hinsichtlich der stereotypen Darstellung der Frau kritisiert. Wie bereits erwähnt, wird das Leitmotiv der entführten Prinzessin auch in diesem Teil der Reihe aufgegriffen. Allerdings sind hier auch leichte Veränderungen erkennbar, auf die an dieser Stelle mit starken Spoilern eingegangen wird. Wer Mario Odyssey noch nicht gespielt hat, der sollte diesen Abschnitt überspringen.
Mit Pauline, die von Jumpman aka Mario zu rettende Frau im Arcade-Game Donkey Kong, wird eine selbstbewusste und kompetente Frau ins Mario-Universum implementiert. Sie ist nun Bürgermeisterin der Stadt New Donk City. Bei erfolgreicher Organisation eines Festes erklingt der erste Song in einem Mario-Spiel mit Vocals – gesungen von Pauline.
Die Endsequenz der Handlung bedarf eines besonderen Augenmerks. Kaum ist Prinzessin Peach in Sicherheit, zückt ihr Retter Mario, gekleidet im weißen Hochzeitsfrack, einen Blumenstrauß und buhlt um die Gunst seiner Angebeteten. Und auch Bowser macht ihr mit Piranha-Pflanzen in der Hand erneute Avancen. Doch Peach zeigt beiden die kalte Schulter, springt auf das Raumschiff Odyssey und bricht alleine auf.
Auch im Pilz-Königreich ist sie nirgendwo zu finden. Schnell wird klar: Sie möchte selbst Abenteuer erleben, bereist mit gepackten Koffern und in diversen Gewandungen die verschiedenen Planeten. Scheinbar hegt sie gar keine romantischen Gefühle für ihren Retter und möchte ihr Leben selbstbestimmt und autark gestalten. Die als Gag inszenierte Szene der verhinderten Hochzeit ist hier allerdings nur eine Randnotiz und soll an dieser Stelle nicht überbewertet werden. Aber diese wecken den Wunsch, dass auch Peach ihr eigenes Abenteuer bekommt. Und zwar nicht ein solch klischeeüberladenes wie in Super Princess Peach, sondern ein Spiel, in dem die weibliche Figur auch ernst genommen wird.
Weitere Informationen zu dieser Thematik finden sich auf feministfrequency.com: https://feministfrequency.com/2017/11/08/peachs-tiny-taste-of-freedom-gender-in-super-mario-odyssey/.
Fazit
Während das Jump ’n’ Run -Gameplay über jeden Zweifel erhaben ist, auf den Entdeckerdrang in weitläufigen und abwechslungsreich gestalteten Landschaften setzt, nostalgische Elemente rezitiert, mit zahlreichen innovativen Ideen und Gags garniert, Unmengen an Verwandlungsmöglichkeiten durch den Wurf der Mütze ermöglicht, zeigt sich die Story im gewohnt stereotypen Gewand. Irgendwie spiegelt die Thematik der übergriffigen männlichen Figur und der Zwangsvermählung den aktuellen Diskurs im Kulturbetrieb wider. Und nur einzelne Figuren und Passagen brechen mit den gewohnten Konventionen. Doch gerade weil die Story nahezu keinerlei Relevanz besitzt und bloß schmückendes Beiwerk für das Gameplay ist, kann das Abenteuer Alt und Jung für lange Zeit unterhalten.
Weitere Informationen zu Super Mario Odyssey beim Spieleratgeber-NRW.
Autor: Daniel Heinz
Bilder: Nintendo/Super Mario Odyssey