Videospiele sind Unterhaltungsprodukte, die sich von kontroversen Themen wie Politik fernzuhalten haben, so argumentieren sowohl Macher*innen als auch manche Kund*innen des Mediums. Die Erfüllung dieser Vision vom “unpolitischen Spiel” ist nicht nur problematisch, sondern schlicht unmöglich.
Dieser Beitrag ist Teil des Dossiers Politik & Zeitgeschehen. Eine Übersicht über alle Beiträge des Dossiers gibt es hier | Titelbild-Quelle: Ubisoft / The Division 2
Am Black Friday, dem inoffiziellen Zentralfeiertag des US-amerikanischen Kapitalismus, wird von Terrorist*innen ein biologischer Kampfstoff auf Geldscheinen freigesetzt. Die Kauforgie im schnäppchenverrückten New York führt direkt zum Ausbruch einer tödlichen Pandemie. Anarchie und Chaos regieren, die gesellschaftliche Ordnung bricht völlig zusammen, nicht einmal die Armee kann in der hastig abgeriegelten Metropole die Ordnung wiederherstellen. Entflohene Häftlinge und Plünderer machen die Stadt zum Schlachtfeld. Nur für Notfälle trainierte “Schläferagenten” der US-Regierung können mit Waffengewalt Gesetz und Ordnung wiederherstellen.
Wäre das beschriebene Szenario Teil eines Romans oder eines Films, dürfte man sich fragen, ob das eine bitterböse Satire auf den amerikanischen Kapitalismus oder aber eine rechtskonservative Angstfantasie vor dem Gewaltpotenzial der Unterschicht sein könnte. Tatsächlich ist es aber die Ausgangssituation des Spiels Tom Clancy’s The Division (2016). “Es ist nur ein Unterhaltungsprodukt”, antwortete Julian Gerighty, Creative Director des Spiels, verständnislos auf die Nachfrage, ob die beeindruckenden Bilder eines verwüsteten Manhattan mit Absicht auf die traumatischen Bilder eines New Yorks nach dem 11. September 2001 anspielen würden.
Im Frühjahr 2019 erscheint Teil zwei der erfolgreichen Franchise, und diesmal ist man auf die Frage nach der Politikhaltigkeit vorbereitet – irgendwie. Schauplatz ist Washington DC, und es herrscht Bürgerkrieg, nachdem ein korruptes Regime das Weiße Haus und die Kontrolle über die Regierung übernommen hat. “Das ist kein politisches Statement”, stellt Terry Spier, als Creative Director für The Division 2 (2019) verantwortlich im Interview mit der Branchenseite Polygon sofort ungefragt klar. Der Interviewer Charlie Hall fragt ungläubig nach: Das Artwork zeige aber einen Soldaten mit amerikanischer Flagge, der in Washington in einen Bürgerkrieg gegen eine korrupte Regierung zu Feld zieht – und damit sei keine politische Aussage verbunden? “Absolut keine”, antwortet Spier. “Sie grinsen bei dieser Antwort”, stellt Hall fest.
Absurde Verrenkungen
Dieses Grinsen ist symptomatisch. Es steht für die hartnäckige Weigerung beinahe der gesamten Größen der Videospielindustrie, ihren Produkten mehr als eskapistischen Unterhaltungscharakter zuzugestehen. Man schafft ein Unterhaltungsprodukt für eine möglichst große Zielgruppe, mit dem man möglichst keinen einzigen Käufer ungeachtet seiner politischen Überzeugung verärgern möchte. Zugleich müht man sich allerdings auf die eine oder andere Weise, durch den Anschein besonderer Realitätsnähe die reale Welt möglichst genau abzubilden – inklusive vieler Themen, aber auch nur Symbole, die wegen ihrer Relevanz in der realen Welt diesen Anschein verstärken sollen.
Es ist die Verwendung von Politik, von politischen Symbolen, Themen und Diskussionen, als gefällige Tapete, die nur wegen ihres dekorativen Werts Verwendung findet – und nicht weiter diskutiert werden solle.
Das führt zu absurden Verrenkungen. Etwa wenn der Shooter Far Cry 5 (2018) zwar den Kampf rechtsextremer Prepper-Milizen gegen religiöse Fundamentalist*innen im ländlichen Montana zum Thema hat, aber peinlich jedes Anstreifen an real existierende Probleme der weißen, ländlichen und nicht selten religiös-rechtsextremen US-Provinz vermeidet – Xenophobie, Waffenfetischismus, Opiatmissbrauch, religiöser Extremismus, Gewalt und Armut werden de facto vom Spiel nirgends so thematisiert, dass dadurch Bezüge zur Realität möglich würden. Far Cry 5 sei “apolitisch bis zur Absurdität”, urteilte etwa Paul Tassi für Forbes.
Wenn diese mit großem Aufwand behauptete Apolitizität von Spielen als scheinheilig entlarvt wird, kann das sogar bis zu diplomatischen Querelen führen. Tom Clancy’s Wildlands (2017) stellt etwa Bolivien in kolonialistisch-rassistischer Vereinfachung konsequent als Schwellenland voller Drogenkrimineller dar, in dem Verbrechen und Armut regieren – worauf die bolivianische Regierung sogar auf diplomatischem Weg Protest gegen diese Darstellung einlegte. Da hilft nur Zurückrudern: “Wenngleich das Spiel eine fiktive Geschichte erzählt, die nicht die Realität in Bolivien widerspiegelt, hoffen wir, dass unsere Spielwelt der wunderschönen Topographie des Landes gerecht wird”, heißt es in einer Stellungnahme des Herstellers.
Politik als Tapete
Die Beispiele lassen sich fast endlos fortsetzen. Detroit: Become Human (2018) spielt bewusst mit seiner Analogie von Rassismus und Unterdrückung menschenähnlicher Roboter, bis hin zu Zitaten Martin Luther Kings, doch sein Macher David Cage betont, dass das Spiel, das die historisch ikonische Stadt US-amerikanischer schwarzer Bürgerrechtsbewegung bereits im Titel trägt, nicht politisch zu sehen sei: “Was ist vertretbar, wenn man für seine Rechte kämpft? Ich wollte keine Antwort auf diese Frage geben, und das war mir sehr wichtig. Ich wollte mit meinem Spiel keine Botschaft an die Menschheit richten”, meinte Cage in einem Interview mit Waypoint, in dem er auf die politische Dimension seines Spieles und die Bedeutung auch gewaltsamen Widerstands gegen Unrecht angesprochen wurde.
Auch Deus Ex: Mankind Divided (2016) brüstete sich mit Marketingschlagworten von “mechanical apartheid” als angeblich gesellschaftskritisch und setzt den nur oberflächlich analogen Konflikt um letztlich wirklich gefährliche, übermenschlich starke Cyborgs mit der Unterdrückung realer Minderheiten gleich. Dass auf einem Artwork für den Cyberpunk-Shooter der politische Slogan “Black Lives Matter” durch “Augs lives matter” ersetzt wurde, wurde hastig relativiert: Die Verwendung des Slogans sei nur ein unglücklicher Zufall. Überdies bemühe man sich, das Thema der Apartheid und Segregation, im Fall von Deus Ex jene von Menschen und (unterdrückten) Cyborgs, “so neutral wie möglich” darzustellen.
Jacques-Belletête, Executive Art Director des Spiels, führt diese überraschende “Objektivität” gegenüber einer in den allermeisten aufgeklärten politischen Diskursen der Gegenwart desavouierten Idee der Rassentrennung treuherzig auf inhärente Charakteristika des Mediums Videospiele zurück: “Wir bemühen uns sehr, hier keine Stellung zu beziehen”, weil eben das die Möglichkeit der Spieler*innen einschränken würde, selbst eine Wahl zu treffen.
“Keep your politics out of my games!”
Dass diese auf den ersten Blick, vor allem im Zusammenhang mit emotional und politisch aufgeladenen Themen wie Apartheid und Rassismus, seltsame “Objektivität” auch auf Spielerseite vielerorts gefordert wird, macht die Weigerung, die Politizität von Unterhaltungsprodukten mit inhaltlichem Bezug zur Realität auch nur anzuerkennen, zum blinden Fleck im Auge von Macher*innen und Konsument*innen. Dass die in vielen Spielen transportierten Weltbilder nicht wertfrei und apolitisch sind – und dies auch gar nicht sein können, noch dazu, wenn sie sich zugleich mit realen Konflikten, Themen und Problemen schmücken -, ist eine Binsenweisheit, die hartnäckig ignoriert wird.
Die Ausrede, “es ist ja nur ein Spiel”, die sowohl vonseiten der Spieler*innenschaft als auch der Industrie die reflektierte Interpretation politischer Annahmen und Aussagen von Videospielen grundsätzlich abwehren soll, ist aber mehr als nur ein Verteidigungsreflex, der ironischerweise im Gegensatz zur sonst historisch relevanten und wohlbegründeten Aussage steht, Spiele seien als Medium, als Kulturgut und künstlerisches Ausdrucksmittel tatsächlich und endlich auch ernst zu nehmen. Sie ist auch Ausdruck einer Imagination vom Spiel als a priori unpolitischem Raum, dem Politik nur “von außen”, zumeist von gesellschaftlich progressiver, linker Seite, aufgezwungen würde.
Die Klage, dass sich verschwörerische Kräfte mit Gewalt ins zuvor als “unschuldig” imaginierte Medium Videospiele drängen würden, um dort ihre “kulturmarxistische” Agenda zu verbreiten – durch die Propagierung feministischer, “linker” oder nur progressiver Gesellschaftsideale – ist eng, aber nicht unbedingt ursächlich mit der Entwicklung der Gamergate-Bewegung verbunden, die sich unter anderem der Idee verschrieben hatte, dass vor allem ein “linker”, progressiver und korrupter Spielejournalismus gemeinsam mit Teilen der Entwickler*innenschaft den Spieler*innen politische Themen “aufzwingen” würden.
Die in diesen Diskussionen wiederholt erbittert geäußerte Aufforderung “Keep your politics out of my games” bezieht sich dabei hauptsächlich auf die als bewusste “Indoktrination” gedeutete zunehmende Inklusion traditionell im Medium marginalisierter oder nur als “nicht zugehörig” angenommener Gruppen und Themen: Das betrifft Frauen ebenso wie People of Color oder Mitglieder der LBTQ-Communities sowohl als Zielgruppe von Spielen wie auch ihr Auftreten in diesen Spielen selbst, das wiederholt zu Protesten von Teilen der Spieler*innenschaft führte.
Was politisch ist und was nicht
Dieser Backlash gegen eine als abrupt und aufgezwungen empfundene gesellschaftliche Öffnung des Mediums Videospiele folgt somit ziemlich genau jenem allgemeingesellschaftlichen Widerstand gegen eine als zu rasch empfundene Liberalisierung zahlreicher Gesellschaftsbereiche bei gleichzeitiger wirtschaftlicher und (zumindest so empfundener) gesellschaftlicher Abwertung von bislang selbstverständlich und traditionell dominanten Gruppen und Demografien. “Keep your politics out of my games”, das ist auch der Ruf nach dem Aufrechterhalten eines als eskapistischer Sehnsuchsort empfundenen Rückzugsbereichs, in dem gefälligst die traditionelle, unreflektiert als gegeben angenommene politische und gesellschaftliche historische “Grundordnung” aufrecht bleibt, ohne den als politisch interpretierten Einfluss usurpatorischer liberaler Kräfte.
So haben die Verfechter des “unpolitischen” Spiels kein Problem mit der oben erwähnten Darstellung militärischer, gesellschaftlicher und politischer Konflikte, solange diesen den Drehbüchern von als unpolitisch fehlinterpretierten Thriller-Helden wie Tom Clancy folgen und bestätigt wird, dass deren Macher*innen “keine politische Aussage” treffen wollten. Man könnte polemisch schlussfolgern: Das Aufgreifen politischer sowie gesellschaftlich relevanter Themen und Konflikte von Spielen wird solange als “unpolitisch” akzeptiert, wie sich durch die Handlungen der Spieler*innen in diesen Settings keine Infragestellungen oder gar Änderungen der realen Herrschaftsverhältnisse ableiten lassen. Die reine Inklusion etwa transsexueller Spielfiguren hingegen wird reflexhaft als Indoktrination und unzulässige politische Einflussnahme verurteilt.
Ideologie durch die Hintertür
Der Anschein – und sogar die treuherzige Behauptung – von Apolitizität verstellt allerdings oft den Blick auf Ideologie, die somit unausgesprochen und dafür umso wirkmächtiger durch die Hintertür kommt. Das Mittelalter-Rollenspiel Kingdom Come Deliverance (2018) versprach seinem hoffnungsvoll wartenden Publikum ein beispielloses, historisch authentisches Mittelalter, gestützt durch hunderte Stunden von Recherche, genaues Studium historischer, archäologischer und realienkundlicher Materialien und nicht zuletzt die Mitarbeit von Historikern.
Im Namen dieses “Realismus” verstrickte sich Chefentwickler Daniel Vávra in erbittert und emotional geführte Debatten über die Plausibilität der Anwesenheit nicht-weißer Menschen im Europa jener Epoche. Während der Widerspruch von Historikern, die die theoretische Präsenz dieser Minderheiten im Böhmen um 1400 unter anderem in einer 40-teiligen Essayserie untermauerten, von der empörten Spieler*innenschaft als Versuch gedeutet wurde, in fehlgeleiteter “political correctness” der Vision eines Auteurs aus politischen Gründen “multikulti” aufzuzwingen, blieb eine andere politisch brisantere Facette des Spiels lange Zeit unbeachtet.
Eine Recherche des Bloggers Jan Heinemanns zu anderen Aussagen und Aktionen Daniel Vávras stellte den Tschechen in die Nähe rechten und rechtsextremen Gedankenguts, vielfach belegt durch Indizien und eigene Aussagen. Vávras Kampf für seine Vision vom “weißen Mittelalter”, die vermeintlich nur dem Streben nach “Authentizität” geschuldet war, ließ sich so zumindest auch als bewusstes politisches Statement lesen. Somit ging es in der Diskussion um Kingdom Come: Deliverance nicht primär um die Frage, ob auf den 16 Quadratkilometern Böhmens, die im Spiel abgebildet werden, wohl “realistischerweise” Nicht-Weiße anzutreffen gewesen wären, sondern um eine – durch Vávras freiwillige Wortspenden ihm nahe erscheinende – Ideologie. Das “weiße Mittelalter”, jene mythische, erstrebenswerte Vergangenheit, in der die einzelnen Völker oder Rassen ohne Durchmischung in den Grenzen ihrer Ethnostaaten lebten, ist eine politisch aufgeladene Fantasie, der der Massenmörder Anders Breivik ebenso huldigt wie die Identitären Bewegungen, die sich gern als “Retter des Abendlandes” stilisieren und der “Kreuzritter”-Ikonografie bedienen.
Es folgten eine zerknirschte Entschuldigung Vávras und eine Distanzierung. Für viele Fans des Spiels allerdings blieb die Diskussion ironischerweise ein Beweis für die zwanghafte “Politisierung” eines Spiels, das nur “die historische Realität” abbilden wollte – und schon deshalb nicht “politisch” sein könne.
Alles ist politisch
Es scheint absurd, dass es dezidiert ausgesprochen werden muss: Kein Werk entsteht unabhängig von seinen Schöpfer*innen, deren Ansichten, Meinungen und politischer Überzeugung – auch und besonders dann nicht, wenn es behauptet, “die Realität” zeigen zu wollen. Der Wunsch, sich Spiele als unpolitisches, reines Unterhaltungsprodukt zu “erhalten” – mit dem Schlachtruf “keep politics out of our games” -, ist deshalb nicht nur illusorisch, sondern auch problematisch, weil er die vorhandene, unweigerliche Politikhaltigkeit jedes Mediums negiert und deren damit verbunden Botschaften somit unbewusst, und damit noch wirksamer, ihr Werk tun lässt.
Die Kritik, die der Industrie heute angesichts als absurd erkannter Rechtfertigungsmanöver zunehmend entgegengebracht wird, lässt hoffen, dass Spiele irgendwann auch hier zum Kulturgut wie jedes andere werden. Es gibt kein Buch, keinen Film, kein Album und kein Spiel, das frei von Politik wäre – wie bei jedem Kulturprodukt ist die ganze reale Welt ihrer Schöpfer der Stoff, aus dem sie entstehen.
Alles ist politisch; diese Tatsache in vollem Bewusstsein anzuerkennen, ist ein notwendiger Schritt für Macher*innen wie Konsument*innen auch des Mediums Videospiel.
Autor: Rainer Sigl
Was für eine tolle Lektüre! Vielen Dank